Projektwerkstatt

WAS IST ANARCHIE? BEGRIFF UND WIRKLICHKEIT ZWISCHEN AUFSTAND & LEBENSGEFÜHL

Was bleibt an zentralen Definitionspunkten?


1. Definitionen
2. Anarchie - der Begriff für alles, auch völlig Verwirrtes
3. Was bleibt an zentralen Definitionspunkten?
4. Varianten des Anarchismus
5. Links und Lesestoff

Was kann bleiben von einem derart zerrupften Begriff? Und was machen die, die sich zum Anarchismus bekennen, mit ihm? Macht es überhaupt noch einen Sinn, dieses Wort zu benutzen, welches offenbar für all jenes stehen kann, was nur mit ausreichend Inbrunst gut oder schlecht befunden wird - verbunden regelmäßig mit der Abschaltung weiteren Denkvermögens? Löst jeder Gebrauch nicht nur eine Welle von Stigmatisierungen aus - wie ein umfallender Schrank, dem alle Schubladen gleichzeitig aufgehen, bevor er seinen Inhalt ganz verliert?

Um diese Frage zu klären, soll der Blick wieder weggehen von denen, die Anarchie als Projektionsfläche ihrer Ängste brauchen und wegen des Haderns mit ihrer eigenen Unentschlossenheit zum finalen Alptraum erklären. Stattdessen soll er auf die gerichtet sein, die mit dem Label sympathisieren, sich selbst als AnarchistInnen sehen und davon kund tun.

Anarchie als Herrschaftslosigkeit
Bleiben wir angesichts dessen, dass im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff der Anarchie gar keine klare Kontur hat und für alle Arten von Phantasien und Projektionen herhalten muss, zunächst bei dem, was das Wort von seinen Bestandteilen, also wörtlich aussagt: Herrschaftslosigkeit. Leider ist damit noch kein konkreter Inhalt in den Begriff eingeführt: Was ist Herrschaft? Und wie muss Gesellschaft aussehen, damit sie fehlt?
Darauf fehlt in den aktuellen Anarchiedebatten und -strömungen in der Regel die Antwort oder die Analysen sind auf dem Stand vor ca. 100 Jahren steckengeblieben. Klassenkampfparolen oder Konsensharmonisierung prägen das Bild, während es Diskurse, Funktionseliten usw. noch nicht einmal auf die erste Stufe der Theoriedebatte geschafft haben, nämlich zur Kenntnis genommen zu werden.

Anarchie als Prozess der Befreiung und Entfaltung
Wenn nun Anarchie die Nichtherrschaft bzw. Herrschaftslosigkeit meint, dann definiert sie sich über die Nichtexistenz von etwas. Es ist also zum einen aus dem Begriff nicht ableitbar, was denn dann ist. Zum anderen folgt aus der Anfangsdefinition eine weitere: Was ist denn Herrschaft? Hier zeigt sich schnell eine große Schwäche anarchistischer Theoriedebatten, denn fast nirgends existiert ein klares Bild davon, in welcher Weise Menschen und ihre freien Zusammenschlüsse beherrscht werden, d.h. direkter Gewalt, Zwängen und verdeckten Beeinflussungen ausgesetzt sind. Wenn aber Anarchie die Freiheit von Herrschaft ist, so kann diese Frage nicht unbeantwortet bleiben. Nötig ist ein klares Bild, wie Herrschaft wirkt. Dabei zeigt sich, dass dieses Bild mit der Zeit einem Wandel unterworfen war. Je intensiver die Beschäftigung mit Formen der Herrschaft, umso mehr Formen wurden sichtbar und beschrieben. Das ist auch für die Zukunft weiter zu erwarten. Schon von daher kann ein anarchistischer Weg nur ein Prozess sein - voraussichtlich ein endloser, wenn mensch annimmt, dass viele Herrschaftsmechanismen noch unentdeckt sind oder erst sichtbar werden, wenn andere Zwänge, Unterdrückungsmechanismen, Diskriminierungen, Diskurse usw. abgebaut worden.

Die negierende Beschreibung von Anarchie durch Benennung dessen, was nicht mehr ist, wenn eine Gesellschaft anarchisch wäre, bringt AnarchistInnen oft den Vorwurf ein, nur gegen etwas zu sein, aber nicht beschreiben zu können, für was sie eintreten. Das trifft auch oft zu. Die Kritik, nur "Nein" sagen zu können, beschönigt die Lage aber, denn oft mangelt es sogar am Mut zum klaren "Nein" und an genaueren Beschreibung, was nicht gewünscht wird. Eine gute Herrschaftsanalyse samt Kritik ist eher selten.
Andererseits müsste der Mangel an positiv beschriebenen Zukunftsbildern gar keine Schwäche sein. Denn gesellschaftliche Utopien können nur aus dem Ideengehalt der heutigen Welt schöpfen. Kulturelle Evolution aber verläuft nicht linear, sondern schafft durch die Veränderungen jeweils neue Handlungsgrundlagen, die für die Weiterentwicklung neue Qualitäten darstellen. Die aber lassen sind nicht aus dem heutigen Wissensstand heraus abschätzen - schon gar nicht die Qualitäten, die sich aus neuen Qualitäten herausbilden; und so fort in den Entwicklungsstufen (siehe das Kapitel zur Selbstorganisierung von Materie, Leben und Kultur im Buch "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen"). Es ist daher nicht nur ein pragmatischer, sondern auch ein theoretisch anspruchsvoller Ansatz, den Weg zur Anarchie als Prozess des Ausräumens von Beschränkungen, der Befreiung aus Vorgaben, Zwängen und fremdbestimmten Beeinflussungen sowie der Entfaltung von Handlungsfähigkeiten und -möglichkeiten zu betrachten. Kurz: Ein gehaltvolles Dagegensei ist keine Absage an Utopien oder den Entwurf von Zwischenzielen. Befreiung ist praxisgerecht vorstellbar als Demaskierung herrschaftsförmiger Verhältnisse und Beziehungen in der Gesellschaft samt ihrer Überwindung. Geht dieses Zurückdrängen mit der Ausdehnung selbstbestimmten Handelns einher, so ist das genau der Weg zu einer immer herrschaftsfreieren Gesellschaft. Es ist, um diesen Begriff hier zu benennen, Emanzipation - der nie endende Prozesse des Abbaus von Fremdsteuerung sowie der Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten (siehe auch hierzu das Kapitel zum Prozess von Befreiung in "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen).

Aus Chomsky, Noam (1973): Anmerkungen zum Anarchismus
Man könnte aber auch anders argumentieren: Nämlich das es unser Anliegen sein muss, innerhalb jeder Phase der Geschichte jene Form von Autorität und Unterdrückung bloßzustellen, die noch aus einer Ära herrühren, wo sie Berechtigung gehabt haben könnten aus tatsächlichen Erfordernissen der Sicherheit, des bloßen Überlebens oder der Ökonomischen Fortentwicklung, jetzt aber eher zum materiellen und kulturellen Niedergang beitragen, anstatt ihn zu beheben. Wenn dem so ist, dann kann es auch keine Lehre von einer Gesellschaftsveränderung, geben, die mit Zuverlässigkeit auf die Gegenwart und die Zukunft anwendbar ist, und letztlich auch kein spezifisches und unveränderbares Konzept für das Ziel der Veränderung der Gesellschaft.

Aus Cindy Milstein (2013), "Der Anarchismus und seine Ideale" (S. 48+47)
Anarchistisch zu sein, bedeutet, all unsere Voraussetzungen, alles, was wir denken und tun, selbst wer wir sind, zu hinterfragen, um danach unser Leben auf den Kopf zu stellen. Herrschaftliche Beziehungen aufzulösen, heißt, sich selbst neu zu entwerfen, und zwar im Kontext eines Neuentwurfes der gesamten Welt. ...
Alles beginnt mit kritischem Denken, mit einer weniger entfremdeten Beziehung zu uns selbst und zu anderen und mit der Wiederaneignung der Vorstellungskraft.


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