Anarchie

VERKEHRSWENDE IN GIESSEN: DIE KONKRETEN VORSCHLÄGE

Fahrradstraßen: Innerer Anlagenring, Innenstadtdurchfahrten, Trassen in alle Stadtteile


1. Fahrradstraßen, Tramlinien und eine Flaniermeile
2. Forderungen, Wünsche, Ziele ... unser Verkehrswendeplan
3. Die weitere Vision: Verkehrswende 2.0 - kein Autoverkehr mehr durch die Stadt
4. Zu Fuß: Autofreie Innenstadt und Zonen, barrierefreie und breite Wege
5. Fahrradstraßen: Innerer Anlagenring, Innenstadtdurchfahrten, Trassen in alle Stadtteile
6. Anlagenring wird zur Fahrradstraße ... und wieder zur Autostraße: Desaster statt Auftakt zu mehr
7. RegioTram: Zwei Straßenbahnlinien mit Anschluss ins Umland, weitere Strecken in Stadtteile plus Bus-Zubringer
8. Bachelorarbeit zur RegioTram
9. Klingt exotisch, bringt es aber: Seilbahnen als Ergänzung
10. Stadtteile im Nordosten: Wieseck und rund um die Philosophenhöhe
11. Pläne für konkrete Plätze oder Straßenabschnitte
12. ÖPNV und Nulltarif in und um Gießen
13. Verkehrsunternehmen, Medien, Politik und Institutionen
14. Parteien und Politiker*innen zur Verkehrswende in Gießen
15. Beiräte, NGOs, Berater*innen usw.
16. Verkehrserzeuger*innen und Pro-Auto-Lobby
17. Links
18. Das war der erste Vorschlag (2017): Plan, Text und Flyer
19. Kontaktformular für Anfragen und alle, die mitmachen wollen

Gießen ist für Radfahrer schrecklich
Christian Diller, Professor am Institut für Geographie der Uni Gießen, in: Gießener Allgemeine, 11.5.2022

Gießen ist in Hessen die Stadt mit der geringsten Autobesitzdichte (4,2 Autos auf 10 Einwohner*innen). Das dürfte am hohen Anteil an Studierenden liegen und daher eine Täuschung sein. Viele PKWs sind wahrscheinlich auf die Eltern zugelassen - und noch bedeutender ist die Pendler*innenquote. 60-80% der Autos auf Gießens Straßen stammen aus der Umgebung - belasten also nicht nur die Stadt, sondern auch die Orte drumherum. Dass Gießen nur ein geringes Fahrradaufkommen hat, zeigt zusätzlich, wie schlecht die Stadt für Radfahren gestaltet ist. Es war und ist eine Autostadt. Das muss sich ändern!

Aus dem "Leitbild für eine nachhaltige Stadtentwicklung" der Stadt Gießen (beschlossen am 15.2.2001)
Wir setzen uns dafür ein, dass Gießen eine fahrradfreundliche Stadt wird.
Bericht "Wie eine Stadt 640.000 Tonnen Kohlendioxid einsparen will", in: FAZ am 9.8.2022


Unser Plan der Fußwege (blaue Schleier) und autofreie Innenstadt (gelb unterlegt) sowie Fahrradstraßen (grün gepunktet) und nötige Querungsumbauten (schwarze Sterne) ++ aktualisiert am 13.3.2019
Gesamtplan: Variante mit RegioTram (jpg)
Der Plan mit Fahrradstraßen, Tram und Flaniermeile (aktualisiert im April 2020)
A5-Flyer (beidseitig) zum Ausdrucken und Verteilen
Rückblicke: Erster Flyer (2017) ++ erster gedrucker Plan (2018, überarbeitet 2020)


Ausschnitte aus dem Plan der Fahrradstraßen (andere z.T. ausgeblendet) für die Innenstadt und die Verbindungs-Fahrradstraßen zwischen den Uni-Hauptstandorten



Zweigeteilter Plan der Fahrradstraßen und Tram: Oben der Norden, unten der Süden

Legende für die Pläne:
  • Rot unterlegt und eng gepunktet: Linien der RegioTram (eigene Gleise und auf Bahnstrecken)
  • Hellrot unterlegt und weiter gepunktet: sonstige vorhandene Bahnlinien
  • Rote Pfeile: mögliche Richtungen weiterer Straßenbahnlinien (Weststadt, Wieseck, Südstadt)
  • Rote, größere Quadrate: Haltestellen an Bahn- und Tramlinien
  • Pink: Korridor für Seilbahn Bahnhof-Klinik-Unibereiche
  • Punkte dunkelgrün mit schwarzem Kern: Radweg getrennt von Straße
  • Punkte dunkelgrün mit Abstand: Fahrradweg auf Feldwegen (höchstens Anlieger frei)
  • Punkte dunkelgrün eng: Fahrradstraße mit "Anlieger frei"
  • Punkte hellgrün eng: Fahrradstraße mit "Kfz frei"
  • Punkt blau zwischen grünen Punkten: Notwendige Radverbindung auf Straßen - Tempo 30 nötig
  • Stern schwarz: Gefährliche Überquerung/Einfädelung zu Autostraße - Querungshilfen nötig (Markierungen, bauliche Anlagen, Tempobegrenzung usw.)
  • Hellblaue Flächen: Autofreie Innenstadt
  • Rote Kreise: Ampeln mit Rundum-Grün für Fußgänger*innen
  • Graublau gesprenkelt: Flaniermeilen (breite Fußverbindungen)

Fahrradstraßen sind besonders gekennzeichnete Bereiche (meist mit Schild plus Bodenmarkierung), in denen besondere Regeln gelten. Autos dürfen grundsätzlich maximal 30 km/h fahren und Radler*innen, die auch nebeneinander fahren dürfen, nicht drängeln/überholen. Wir lehnen es aber ab, die Fahrradstraßen grundsätzlich für Autos, d.h. auch für den Durchgangsverkehr freizugeben. Statt dessen schlagen vor:
  • Anlieger*innen dürfen mit Autos zu ihren Grundstücken fahren, allerdings nur bis 20km/h. Fahrräder haben prinzipiell Vorrang und dürfen nicht überholt werden.
  • An geeigneten Stellen sollen die Straßen durch Autosperren unterbrochen werden, um sicherzustellen, dass kein Durchgangsverkehr über die Fahrradstraßen läuft. Verkehrsberuhigende Pflasterungen müssen so beschaffen sein, dass Radler*innen dadurch nicht gestört, gefährdet oder ausgebremst werden.
  • An Kreuzungen mit anderen Straßen gelten die üblichen Verkehrsregeln (Ampeln, rechts vor links usw.). Wo immer möglich, sollte die Fahrradstraße die Vorfahrtstraße bilden und das auch auf dem Boden entsprechend erkennbar sein.
  • Querungen stark befahrener Autostraßen sollten besonders gestaltet werden, unter anderem mit einer baulichen Erhöhung, die Autos zum Abbremsen zwingt.

Verkehrsentwicklungsplan für Gießen: Viele Vorschläge übernommen
Im November 2023 wurde der neue VEP für Gießen veröffentlicht - und in ihm zeigte sich, wie wertvoll der Verkehrswendeplan mit seinen Vorschlägen war. Etliche Fahrradstraßen, die im Plan vorgeschlagen sind, tauchen nun im Entwurf des VEPs auf. Ob daraus auch Wirklichkeit wird? Das ist offen, denn erstens muss aus dem Entwurf erst noch das endgültige Konzept werden. Dann muss die Stadtregierung das auch umsetzen. Und schließlich darf niemensch klagen bzw., falls doch, die Stadt schlauer agieren und den FDP-Oberrichter beim VGH als befangen ablehnen.

Abschnitte im VEP-Entwurf (zusammengeschnitten)

Desaster Anlagenring: Stadtregierung versagt bei Verkehrswende - und setzt wieder auf Autos
Am Juni 2023 wurde die erste richtig große Fahrradstraße eingerichtet - und das sollte der Anfang zu mehr sein (siehe unten). Doch eine üble Hetzkampagne gegen Fahrradfahrende und peinliche Fehler der Stadtregierung führten dazu, dass die grün-rot-rote Koalition plötzlich ihr Herz für Autos entdeckte und die schöne Fahrradachse wieder abriss. Seitdem wird am Ausbau der Autofreundlichkeit gearbeitet - und zwar richtig engagiert.

Hinsichtlich Fahrradfahren ging es danach nur noch weiter, wie in verschlafenen Jahrzehnten davor: Kleinklein, was halt niemensch stört.

Der Umbau des Anlagenrings sollte den Anfang machen ...
In den Jahren 2020 bis 2022 mit teils spektakulären Aktionen durchgesetzt, wird ab Juni 2023 die Hauptverkehrsachse in Gießen (Anlagenring) so umgebaut, dass die Hälfte der Spuren für ÖPNV und Fahrrad zur Verfügung steht (siehe Extraseite zum Anlagenring).
Der Anlagenring allein hätte nicht gereicht. Er hätte seine volle Wirkung erst entfaltet, wenn ...
  • es gute Zubringerachsen aus allen Richtungen (Stadtteile, Schulen, Hochschuleinrichtungen usw.) gibt.
  • die Zahl von störenden Autoquerungen weiter minimiert wird (zB Senckenbergstraße und Asterweg zu Sackgassen, Einbahnverkehr Goethe-/Johannesstraße)
  • Verbesserung für Fußgänger*innen (Barrierefreiheit, mehr Platz, Rundum-Grün-Ampelschaltungen usw.) und den ÖPNV mit einem höherwertigen Verkehrssystem (Regiotram)

Vorschläge für zuführende Fahrradachsen zum Anlagenring


Warum die beiden inneren Spuren des Anlagenrings?
1. Mehrere Ampeln fallen weg, nämlich alle, wo nur eine Straße von außen auf den Ring trifft. Dort kann die Ampel für die Fahrradstraße komplett abgeschafft werden. Das sind u.a. E-Klo, Bleichstraße, Steinstraße, Marburger Straße, Moltkestraße und Gabelsberger Straße. Das würde sich Stück für Stück ausdehnen, wenn Straßen Richtung Innenstadt autofrei werden. Damit wäre auch das Argument von CDU & Co. vom Tisch, dass die Fahrradstraße auf dem Anlagenring zu umständlich wäre wegen der vielen Ampeln (was stimmt, wenn die Fahrradspuren beidseits außen sind = aktuelle SPD/Grünen-Version).
2. Die Busse müssen bei der SPD/Grünen-Versionen entweder auf der Fahrradspur mitfahren (was Radler*innen und Busfahris ablehnen!) oder bei jeder Haltestelle die Fahrradspur kreuzen. Das ist saugefährlich!!!
Bei "unserem" Vorschlag gilt das nur für den inneren Anlagenring (also schon mal 50% der Probleme weg). Dort wäre eine Möglichkeit, die Fahrradstraße im Bereich einer Bushaltestelle nach rechts in den bisherigen Haltestellenbereich zu verschwenken und eine Verkehrsinsel zum Aussteigen zu schaffen. Die Fußgängis müssen dann noch die Fahrradstraße überqueren, was z.B. durch Zebrastreifen auf der Fahrradstraße auch für die Radler*innen warnend kenntlich gemacht werden kann. Dann müssen die Busse NIE die Fahrradstraße kreuzen!!! Genau das wollen wir und die Busfahris!!!
3. Bei "unserem" Vorschlag bleibt die Option, im äußeren Anlagenring eine Einbahnstraße einzurichten. Das hat den Nachteil von längeren Wegen, aber noch viel weitere Vorteile hinsichtlich Wegfall von Ampeln usw., was zeitmäßig die längeren Wege ausgleichen kann.

Mehr Infos


Ergebniskarte einer ersten automatischen Erfassung von Fahrradfahrten im Stadtgebiet Gießen (noch mit eher wenig Teilnehmenden). Je heller, desto mehr Bewegungen (rote Punkte entstehen durch Wartezeiten an Ampeln, also irrelevant). Die roten Striche sind schematisch unsere Vorschläge für die Hauptachsten des Fahrradstraßennetzes - passt ziemlich gut zu den hellen Strecken. Per Klick öffnet sich das Original-PDF zur Fahrtenerfassung.

Heiner Monheim laut Gießener Allgemeine (22.5.2019) im Vortrag am 20.5.2019 in Gießen
Wichtig sei ein durchgängiges, gut ausgeschildertes Netz an Fahrradstraßen. "Bei einer Wasserleitung nützt es ja auch nichts, nur an einer Stelle mal zehn Meter zu verlegen."

Detailvorschläge zur Fahrradinfrastruktur
Umlaufsperren (Barrieren, die freie Durchfahrt behindern)
An diesen Stellen gibt es im Landkreis Gießen Umlaufsperren/Drängelgitter, die z.T. den Radverkehr behindern: overpass-turbo.eu/s/DvX
An Ein- und Ausgängen von Kinderspielplätzen sind sie natürlich OK. Auf Radwegen sollten sie aber generell verschwinden. Das Land hat die Kommunen aufgefordert, die Sperren zu überprüfen und ggf zu entfernen, es ist aber ein mühsamer Weg, das in Verkehrsschauen anzugehen, denn die Kommunen machen das natürlich nicht von sich aus.
Mehr zum Thema vom ADFC (pdf) und VCD.


Direkte Aktion wirkt ... Fahrradstraßen wurden eingerichet - aber leider wieder abgerissen!
Am 11. November 2019 begann dann die tatsächliche Umsetzung. Die Stadt lud zu einer Bürger*innenversammlung und stellte die Planungen für die ersten Fahrradstraßen vor. Leider wird es nur ein sehr kleiner Anfang, noch dazu komplett mit "KFZ-frei"-Schildern (obwohl das nach StVO nur die Ausnahme sein darf) - aber immerhin ein Anfang. Hier folgen Berichte über die Bürger*innenversammlung der Stadt Gießen, auf denen Baudezernent Neidel (CDU) und mehrere Mitarbeiter*innen die Planungen für die ersten Fahrradstraßen erläuterten. Das wohl wichtigste, was Hoffnung macht: Es soll am Ende ein ganzes Netz von Fahrradstraßen entstehen. Wir werden sehen, aufpassen, weiter aktiv sein ...


Leserbrief "Wo bleiben die Fahrradachsen?", in: Gießener Anzeiger, 20.11.2019 (S. 28)
„Besser klein anfangen“ und „Alles richtig gemacht beim ersten Schrittchen in Richtung Verkehrswende“ schreibt Kommentator Stephan Scholz über die pompöse Verkündigung der geplanten Einrichtung von drei Fahrradstraßen. Es ist mehr als bedauerlich, dass er sich offenbar von der Schaumschlägerei des Bürgermeisters Neidel so hat beeindrucken lassen, dass sein kritischer Geist sich nur noch zu der einschränkenden Bezeichnung der Maßnahme als „Schrittchen“ bereitfinden konnte. Von „Verkehrswende“ kann aber dabei nicht im Mindesten die Rede sein, auch wenn der Magistrat sich dieser großspurigen Bezeichnung noch so oft bedienen mag.
1. Diese „Fahrradstraßen“ braucht kein Mensch und schon gar kein Radfahrer. Sie waren bisher schon problemlos mit dem Fahrrad zu befahren und sie führen nirgendwo hin. Sie enden zum einen am Berliner Platz, wo es weder Ampel noch weiterführende Fahrradwege gibt beziehungsweise an der Südanlage, wo es zwar
eine Ampel gibt, wo Radfahrer aber Richtung Fußgängerzone nach wenigen Metern nicht weiterfahren dürfen oder, ebenfalls wieder ohne Fahrradweg, auf den Anlagenring abbiegen müssen. Fahrradstraßen machen aber nur Sinn, wenn sie Bestandteil von Verkehrsachsen sind, auf denen Fahrradfahrer schnell und sicher
vorwärtskommen.
2. Es gibt weiterhin nicht einmal den Ansatz eines Plans, geschweige denn konkrete Maßnahmen um in Gießen für Radfahrer solche Achsen zum Erreichen der Innenstadt wie zu ihrer Querung aus verschiedenen Richtungen anzulegen. Seit gefühlt einer Ewigkeit sind die Grünen nun am Magistrat beteiligt, ohne dass sich irgendetwas zur Verbesserung des Fahrradverkehrs getan hätte. Und es liegt auch auf der Hand, warum das so ist: Das geht nur, wenn gleichzeitig der Autoverkehr eingeschränkt würde. Leicht umzusetzen wäre zum Beispiel, wie schon längst von Jörg Bergstedt und anderen vorgeschlagen, je eine Spur des gesamten Anlagenrings für Fahrräder und Busse zu reservieren. Das würde die Qualität des Fahrradverkehrs in Gießen massiv verbessern, vor allem, wenn auch die großen Zufahrtsstraßen zum Anlagenring entsprechend umgebaut würden. Aber dann schreien natürlich Autofahrerlobby und Geschäftswelt „Zeter und Mordio“, und die haben in der Stadtpolitik allemal mehr zu sagen als ein paar armselige Fahrradfahrer.
3. Es weiß jeder: Wir brauchen eine wirkliche Verkehrswende, um in der Klimabilanz Fortschritte zu machen, und eine solche Verkehrswende geht nur voran, wenn der Autoverkehr nachhaltig reduziert wird, der ja zu den größten Produzenten von CO2 gehört. Dies kann nur erreicht werden, wenn die Infrastruktur für den Fahrradverkehr so verbessert wird, dass es attraktiv wird, das Fahrrad statt des Autos zu benutzen. Das kann sich auch nicht auf den innerstädtischen Verkehr beschränken. Es gibt um Gießen herum Dutzende von Orten, von denen aus die Stadt gut mit dem Fahrrad erreichbar wäre, wenn es Fahrradachsen gäbe, die ohne Hindernisse und Umwege benutzbar wären. Andere Städte haben längst vorgemacht, wie das erfolgreich geht, und man müsste es ihnen nur nachmachen. Aber weder die Stadt noch der Landkreis noch das Land unternehmen etwas in dieser Richtung. Jüngst hat unser grüner Verkehrsminister nach zehn Jahren Amtszeit großspurig die ersten fünf Kilometer eines Fahrradschnellwegs eingeweiht, der einmal von Darmstadt nach Frankfurt führen soll. Wenn es in gleichem Tempo weitergeht, dauert es noch 40 bis 50 Jahre, bis der fertig ist.
4. Ähnlich ist es mit der Gießener Verkehrspolitik bestellt – die jämmerlichen drei „Fahrradsträßchen“ sind der beste Beleg dafür. Nur nichts an den Verkehrsverhältnissen ändern, in denen die Stadt alleine dem Auto gehört, und ein paar Alibi-Maßnahmen groß herausposaunen, die nichts bewirken: Das ist die Politik des Magistrats in ihrer ganzen Erbärmlichkeit. Sie wissen, was nötig ist, aber sie tun nichts (und fahren vermutlich weiter Auto). Wie soll ich das meinen Enkeltöchtern erklären?
Dr. Hartmut Stenzel, Gießen

Aus "Verkehrspolitische Palliative" von Essayist Götz Eisenberg, in: Gießener Anzeiger am 23.11.2019 (S. 31)
Was nützen einem ein paar hundert Meter befriedete Fahrradstraße, wenn man dann auf dem Anlagenring wieder in eine Zone eintaucht, in der das Recht des Stärkeren und die pure Aggression herrschen? ...
Eine befriedete und versöhnte Gesellschaft, die den sozialdarwinistischen Konkurrenzkampf überwunden und Freundlichkeit zum vorherrschenden Kommunikationsstil erhoben hätte, fände im Fahrrad das ihr gemäße „konviviale“ Fortbewegungsmittel. „Konvivial“ nannte Ivan Illich technische Hilfsmittel, die vernünftigen Wachstumsbeschränkungen unterliegen. Das Fahrrad ermöglicht eine aus eigener Kraft betriebene Mobilität, die darin zugleich ihre Begrenzung findet.
Solange wir nicht in einer solchen Gesellschaft leben, sondern in einem nur notdürftig übertünchten Kriegszustand, werden wir mit Palliativen leben müssen, die den Wahnsinn hier und da ein wenig eindämmen. Das Projekt Fahrradstraßen erinnert an die staatlich geförderte Praxis von Landwirten, ihre mit Glyphosat besprühten Felder mit einem schmalen Streifen von Ringel- und Sonnenblumen zu umgeben.


Kommentar "Zu Fahrradstraßen in Giessen: Beruhigender Unsinn" von Karsten Zipp, in: Gießener Anzeiger, 2.12.2019
Ich fahre Fahrrad. Seit Jahren. Quer durch Gießen, von meiner Wohnung im Buchenweg zur Arbeitsstelle in Wieseck, von dort über die Gießener Straße zum Seltersweg oder zum Bahnhof. Manchmal auch über die Ludwigstraße in den Riegelpfad zum „Bahndamm“ oder ins „Klimbim“. Ich fahre Rad. Tag für Tag. Da kommt die Nachricht gerade Recht, dass die Stadt drei neue Fahrradstraßen einrichten will. Das macht mich glücklich. Genauer gesagt: Das würde mich glücklich machen – wenn ich Politiker wäre oder wenn ich „gut gemeint“ mit „gut“ verwechseln würde; aber gewiss nicht, wenn ich Radfahrer bin.
Zu Fahrradstraßen werden die Löberstraße, die Lonystraße und die Goethestraße umgewandelt. Das ist klasse. Vom Begriff her. Von der Praxis her gesehen, ist es absurd. Absurd oder auch sinnlos. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass es ein schlechter Witz ist, der die Faschingszeit mit Themen füllen soll. Wenn ich mit dem Rad in die Innenstadt fahre, benutze ich die Grünberger Straße. Eine wunderbar breite Straße. Für Autofahrer. Die rasen in Zweierreihen an einem vorbei, was verständlich ist. Genauso verständlich wäre hier aber auch ein Radstreifen, der es verhindert, dass hinter einem dicht an dicht gedrängelt wird, die ortsüblichen SUV dicht auffahren, bis sie endlich überholen dürfen.
In die Löberstraße komme ich nicht. Eigentlich kommt niemand in die Löber- oder Lonystraße, der dort nicht wohnt. Das sind tatsächlich wunderschöne Straßen. Aber sie führen zu nichts. Zu nichts, zu dem jemand, der sie als Durchfahrtstraßen nutzen will, hin könnte. Und wenn man dort durchfährt, ist sowieso alles beruhigt. Beruhigt parken die Autos, beruhigt suchen Fahrer nach Parkplätzen, beruhigt radeln andere Menschen daran vorbei. Beruhigter geht’s kaum.
Nein, beruhigter geht’s doch. Nämlich in der Goethestraße. Die befahren zwischen Ludwigstraße und Südanlage seit Jahren ganz enorm beruhigt alle Radfahrer. Enorm beruhigt zwischen den parkenden Wagen der Anwohner, ein paar Fußgängern und langsam fahrenden Parkplatzsuchern. Die Parkplatzsucher müssen künftig woanders suchen und dann dort die eh schon überfüllten Straßen noch schlimmer überfüllen. Wer Löber-, Lony- und Goethestraße beruhigen will, dem sind wahrscheinlich noch die schönsten Bahnstrecken Deutschlands im TV-Nachtprogramm zu actionreich.
Wenn ich jeden Tag Rad fahre, dann leide ich in Gießen. Ich leide dank auf der Straße parkenden Autos, die die Straße unnötig verengen, in Wieseck. Ich leide auf dem Anlagenring, den man auch das Monza für alle Poser und Möchtegern-Formel1-Piloten nennen kann. Ich leide auf der Ludwigstraße, wo es für entgegenkommende Autos so eng wird, dass das daneben geklemmte Fahrrad als potenzieller Kollateralschaden in Kauf genommen wird. Ich leide an vielen Orten in Gießen. Aber gewiss nicht in der Löber-, Lony- oder Goethestraße. Wer die Beruhigung dieser Straßen als eine echte Verbesserung anpreist, glaubt vermutlich auch, Radwege im Professorenviertel würden den Klimawandel aufhalten oder dass Donald Trump noch seine echte Haarfarbe trägt.

Insgesamt war der Verlauf klassisch: Am Anfang brüllten viele gegen die Vorschläge von Fahrradstraßen, aber im Laufe der Zeit und vor allem nachdem klar war, dass die Fahrradstraßen kommen werden, gesellten sich immer mehr auch Einflussreiche in den Kreis der Befürworter*innen.
BID-Vorsitzener Heinz-Jörg Ebert zur Fahrradstraße auf dem Anlagenring im Bericht "Es könnte gelingen", Gießener Anzeiger am 11.4.2023
"Das, was uns bereits an geplanten Verkehrsknoten am Anlagenring gezeigt wurde, sieht überzeugend aus und könnte funktionieren". Dies würden auch die involvierten BID-Kollegen und Vertreter der IHK so sehen, sagte der Hausherr. Und weiter: "Uns alle eint doch das Ziel, eine reizvolle, interessante und lebenswerte Innenstadt zu haben. Es gibt Anlass zu glauben, dass dies gelingen könnte".

Aber als dann die Stimmung durch rechte Parteien, den Justiz-/Polizeifilz und einen militanten Automob umschlug, waren alle plötzlich wieder für Autos, mehr Parkplätze und gegen Radfahren - dann auch Grüne und SPD. Danach gab es für Fahrradfahrende nur noch Kleinklein - Bericht "Nach Verkehrsversuch: Knotenpunkte in Gießen unter Beobachtung", in: Gießener Allgemeine am 1.3.2024

Radfahren in Gießen: Einzelvorschläge und Kritik am Bestand

Online-Karte zum Radfahren in Gießen mit mit Wegenetzen, Abstellanlagen, Reparatur- und Leihstationen

Fahrradprojekte in und um Gießen

Karte mit allen Standorten der Leih-Spezial- und -Lastenräder

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