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ANARCHIE UND DEMOKRATIE
DIE GLEICHSETZUNG DES UNVEREINBAREN

Kritik der Demokratiebefürwortung


1. Einleitung
2. Siebenmal: Anarchie und (Basis-)Demokratie sind unvereinbar!
3. Anarchistische Kritik an Staat und Demokratie
4. Trotzdem: AnarchistInnen für die (verbesserte) Demokratie
5. Positiver Bezug auf das Volk
6. Demokratie als Entscheidungsform in der Anarchie?
7. Kritik der Demokratiebefürwortung
8. Links und Materialien

In deutschsprachiger, anarchistischer Literatur finden sich kaum demokratisch-kritische Texte. Bei Horst Stowasser klingt die Skepsis an einigen Stellen an, um an anderen Stellen aber durch pro-demokratische Anspielungen wieder aufgehoben zu werden. Anders sieht es offenbar in anderen Ländern aus, wie Übersetzung z.B. englischsprachiger Anarchietexte ins Deutsche zeigen.

Im Original: Kritik am Demokratiedusel
Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 108 f.)
Haben wir den anarchistischen Prozess erst einmal in dieser Weise gedeutet, wird es auch möglich, sich von dem Fehler zu lösen, der das Denken über diesen Prozess am nachhaltigsten verwirrt: die Begrifflichkeit der Demokratie, mit der er beschrieben wird. Zwar bestehen wichtige Parallelen zwischen den Werten, die Aktivisten in ihrer kollektiven Praxis anwenden, und denen der radikaleren Demokratie-Theorien. Das betrifft insbesondere Konzeptionen von Partizipation, Beratung und Einbeziehung. Trotzdem bestehen zwischen den beiden Konzepten fundamentale Unterschiede. Der Demokratie-Diskurs geht ausnahmslos von der Prämisse aus, dass der politische Prozess letztendlich in kollektiv bindenden Beschlüssen resultiert. Dass diese Beschlüsse durchaus das Ergebnis einer freien und offenen Debatte aller Betroffenen sein können, ändert nichts daran, dass dabei ein alle bindendes Mandat her auskommt. Zu sagen, etwas sei bindend, macht keinen Sinn, wenn jede und jeder einzelne Beteiligte darüber entscheiden kann, ob es für sie oder ihn bindend ist. Bindend heißt auch durchsetzbar, und Durchsetzbarkeit ist eine wesentliche Voraussetzung der Demokratie. Doch das Ergebnis des anarchistischen politischen Prozesses ist grundsätzlich nicht durchsetzbar. Insofern ist er keineswegs "demokratisch"; denn bei der Demokratie geht es ja darum, dass die gleichberechtigte Teilnahme an der Entscheidung gerade die anschließende Durchsetzung der Beschlüsse rechtfertigt - oder die Pille, die geschluckt werden muss, versüßt. Demnach ist Anarchismus nicht die radikalste Form der Demokratie, sondern folgt einem grundsätzlich anderen Paradigma kollektiven Handelns.

Aus Thomas Wagner, "Die Trennung überwinden" in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg)
"Die liberale Demokratie lässt den ganzen, vom Kapitalismus hervorgebrachten Bereich von Herrschaft und Zwang, die Verschiebung substanzieller Machtbefugnisse vom Staat zur Zivilgesellschaft, zum Privateigentum und zu den Zwängen des Marktes, völlig außer Acht. Sie lässt große Bereiche des täglichen Lebens außer Acht, die nicht der demokratischen Rechenschaft unterworfen sind, sondern durch die Macht des Eigentums und die 'Gesetze' des Marktes, die Imperative der Profitmaximierung, regiert werden." Nicht nur puristische Anhänger des repräsentativen Parlamentarismus schließen die ökonomische Sphäre aus ihrem Demokratiediskurs aus, auch unter jenen Stimmen, die lauthals mehr Bürgerpartizipation einfordern, zieht kaum jemand eine Demokratisierung der Wirtschaft auch nur in Betracht. Ein erster Schritt, um diesen fatalen blinden Fleck des heutigen Demokratieverständnisses zu überwinden, besteht in dem Nachweis, dass die Entpolitisierung der Ökonomie nicht zu den Naturbedingungen des Zusammenlebens gehört, sondern eine menschengemachte historische Tatsache ist, die durch menschliches Handeln überwunden werden kann. Erst wenn auch die Wirtschaft als Tätigkeitsfeld betrachtet wird, das in den Geltungsbereich des Demokratieprinzips gehört, gewinnt die Forderung nach einer umfassenden Partizipation der Bürger an materieller Substanz. ... (S. 25f.)
Eine wirklich demokratische Gesellschaft erfordert daher neue kollektive Eigentumsformen, denen es aber gelingen muss, Anreize zu ökonomischer Tätigkeit zu geben, die Chancen individueller Selbstbestimmung zu erhöhen und die Hierarchiebildung zwischen den Verwaltern dieses Eigentums und den Miteigentümern möglichst gering zu halten. ... (S. 33)
Auf globaler Ebene geht es zum Beispiel darum, zwischen den Ländern Formen zu finden, in denen die notwendigen Arbeitsteilungen demokratisch kontrolliert aufeinander abgestimmt werden. (S. 34)


Eine ernst zu nehmende Kritik derer, die Basisdemokratie als integralen Bestand der Anarchie sehen, besteht in dem Vorwurf, dass bei Verzicht auf demokratische Elemente im Anarchismus das Individuelle überhöht und das Kooperative vernachlässigt würde. Ein Anarchismus der freien Vereinbarung ohne verbindliche Regeln und Entscheidungen sei nichts anderes als Individualanarchismus. Dieser Kritik kann mit überzeugenden Konzepten und Experimenten begegnet werden, die zeigen, dass es genau umgekehrt ist: Aus der Offenheit entstehen, gut entwickelte Kommunikation und Streitkultur vorausgesetzt, die Kraft, die Freiheit und der Wille zu mannigfaltiger Kooperation. Diese müssen nicht erst durch das Jammertal endloser Zustimmungsrituale gehen, sondern schöpfen ihre Kraft aus dem Impuls, dem Willen und der Akzeptanz einer Idee.

Enden wir mit einem Kommentar von GWR-Chef (tschuldigung: Koordinationsredakteur heißt das, damit es nicht so auffällt) Bernd Drücke über dieses Kapitel und die dort benannte Demokratiekritik: "Sudelseite". Danke für die Blumen.


Demokraten ziehen Grenzlinie zur Anarchie
Was die AnarchistInnen meist nicht hinbekommen, machen die DemokratInnen oft umso engagierter: Sie wollen mit Anarchie nichts zu tun haben. So entsteht die merkwürdige Mischung, dass sich Anarch@s zwecks Einschleimens in der bürgerlichen Mitte (und nahe deren Portemonnaies) der Demokratie nahe oder sogar als dessen Vollendung sehen, während die bürgerliche Mitte selbst Anarchie zur Hassfigur stilisiert.

Im Original: Demokratische Distanz von Anarchie
Aus Bernhard Pötter, "Mehr Ökokratie wagen", in: Freitag, 2.12.2010 (S. 6)
Da liegt ein Denkfehler vor. Denn das Wesen der Demokratie ist eben auch die Einschränkung. Grenzenlose Freiheit dagegen ist ein Zeichen der Anarchie.

Zum nächsten Text über die Frage nach "Libertär oder liberal?", dem vierten im Kapitel "Theorien, Lücken und blinde Flecken"

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