Aktionsraum Gießen

KRITIK UND PERSPEKTIVEN ANTISEXISTISCHER ARBEIT

Kritik


Vorwort zur 2. Auflage · Einleitung · Kritik · Konsequenzen

One day in the Garden of Eden, Eve calls out to God.
„Lord, I have a problem!“
„What‘s the problem, Eve?“
„Lord, I know you created me and provided this beautiful garden andall of these wonderful animals and that
hilarious comedic snake, but I‘m just not happy.“
„Why is that, Eve?“ came the reply from above.
„Lord, I am lonely, and I‘m sick to death of apples.“

„Well, Eve, in that case, I have a solution. I shall create a man for you.“
„What‘s a man, Lord?“
„This man will be a flawed creature, with many bad traits. He‘ll lie,cheat, and be vain; all in all, he‘ll give you a hard time. But he‘ll be bigger, faster, and will like to hunt and kill things. He will look silly when he‘s aroused, but since you‘ve been complaining, I‘ll create him in such a way that he will satisfy your physical needs. He will be witless and will revel in childish things like fighting and kicking a ball about. He won‘t be too smart, so he‘ll also need your advice to think properly.“

„Sounds great.“ says Eve, with an ironically raised eyebrow.
What‘s the catch, Lord?“
„Well ... you can have him on one condition.“
„What‘s that, Lord?“
„As I said, he‘ll be proud, arrogant, and self-admiring ... So you‘ll have to let him believe that I made him first. Just remember, it‘s our little secret ..."
„You know, woman to woman.“

Die folgenden Kritikpunkte befassen sich mit verschiedenen Aspekten. UnsereAuflistung ist weder gewichtet noch vollständig. Wir haben sie gewählt,um die verschiedenen Aspekte greifbarer und transparenter zu machen. Tatsächlichgibt es eine Menge von Bezügen untereinander.

1. Die Diskussion orientiert sich an Details und Einzelfällen, eine gesamtgesellschaftliche Sicht fehlt
Wie in anderen politisch-praktischen Diskussionen beziehen sich dieantisexistischen Debatten meist auf Einzelfälle. Sie diskutiertenMechanismen und auch die vorgeschlagenen Maßnahmen orientieren sichnicht an gesellschaftlichen Zielen und Utopien. Daher fehlt ihnen der Maßstab,Theorie und Praxis leben „von der Hand in den Mund“.

2. Die Diskussion zum Verhältnis von Männern und Frauen orientiert sich am biologischen Geschlecht
„Frau“ und „Mann“ werden meist nur in einigen die Sexismusdiskussionbislang wenig prägenden Zusammenhängen und Foren (z.B. „Gender“-Debatte)absolut in Frage gestellt. In der „normalen“ Debatte werden sie sogar rekonstruiert.Alle verbreiteten Formen antisexistischer Praxis basieren auf dem biologischenGeschlecht. Die konkreten Maßnahmen und Forderungen richten sichan Menschen in ihrer Form als „Mann“ oder „Frau“, nicht aber an sozialisierteMenschen, z.B. die Dominanten, die Nicht-Dominanten, die vielen Zwischenformenund anderen Variante, an andere soziale Rollen und Individualitätenusw.

3. Auch die „fortschrittlichen“ Begriffe rekonstruieren das biologische Geschlecht oder reduzieren „Mann“ und „Frau“ auf ihre Sexualität
Viele Veränderungen im Sprachgebrauch, die im Zuge der Sexismusdebattenin breiten Kreisen „linker“ Bewegung durchgesetzt wurden, orientieren sicham biologischen Geschlecht, nicht aber an Dominanzverhältnissen. Dasmacht solche Veränderungen zwar nicht unnütz, denn z.B. die geschlechtsneutraleSprache ist eine Fortentwicklung im Sinne der Gleichberechtigung. Gleichzeitigist aber erkennbar, daß es im Kern der Debatte um die Stärkungvon Frauen geht, womit eine „Schublade Frau“ gebildet wird und diese „Gruppe“ über ihre Biologie definiert ist.
Noch deutlicher wird das an der heutigen Verwendung des Begriffs der „FrauenLesben“, die beispielhaft zeigt, wie biologistisch die Debatte geführtwird: Die sexuelle Orientierung wird zum Mittelpunkt der Begriffsbildung,der Begriff der „Frau“ wird damit reduziert als eine auf Hetero-Sex (alsoauf Männer) orientierte Person.

4. Die inflationierende Benutzung von Begriffen wie Vergewaltigung, Sexismus, aber auch z.B. von Faschismus im Rahmen der Debatte verharmlost das, was tatsächlich hinter den Begriffen steht
Immer unklarer wird der Begriff der Vergewaltigung. Er reicht von dersexuellen Berührung bis zum gewaltsam durchgesetzten Geschlechtsverkehr.Unbestritten handelt es sich bei den meisten beschriebenen Vorgängenum sexuelle Übergriffe und damit ein Verhalten, daß nicht akzeptiertwerden kann. Aber vielfach ist es keine Vergewaltigung. Wenn das gälte,müßte in Zukunft jede und jeder fürchten, der die FreundInz.B. zur Begrüßung ohne Rückfrage umarmt, küßtu.ä., daß zwei Tage später diese Handlung öffentlichals sexueller Übergriff bezeichnet würde.
Ähnlich zu bewerten sind einige andere Vorgänge der vergangenenJahre, die weitgehende Begriffe benutzten, um aus direkter Betroffenheitheraus oder gezielt eine maximale Wirkung zu erzeugen, dabei aber, z.T.sogar aus taktischen Gründen eine Verharmlosung des Begriffeserzielten. Das gilt für Begriffe wie „potentielle Vergewaltiger“ füralle Männer, „Täterschützer“ auch für die Verteidigerder Täterschützer (und oftmals einige Stufen indirekter) oder„Faschisten im Bett“, die eine Verharmlosung des Faschismus bedeuten.
Wo auf Kriterien verzichtet wird, was eine Vergewaltigung ist, schafftzudem noch eine weitere Schwierigkeit: Dann ist keine Vergewaltigung, wenneine Frau selbige nicht veröffentlicht oder die Veröffentlichungwieder zurückzieht. Und es erfolgen keine Konsequenzen, wenn die Fraukeine Sanktionen (mehr) einfordert. Wo nur das Definitionsrecht der Frauexistiert, ist ein Vergewaltiger dann keiner mehr, wenn die Frau ihre Aussage(warum auch immer) nicht macht oder zurückzieht. Wer aber will das?

5. „Frauen sind besser als Männer“ – eine sexistische Position
In der Debatte werden immer wieder bestimmte Verhaltensweisen ausschließlichMännern zugewiesen. Dabei werden „Frau“ und „Mann“ nach ihrer biologischenGeschlechtlichkeit unterschieden, nicht aber nach ihrer Sozialisation („gender“).Das bedeutet eine Rekonstruktion der biologischen Frau. Tatsächlichist unter den realen Verhältnissen die biologische Frau auch immerin der sozialen Rolle „Frau“, da die soziale Konstruktion ab der Geburterfolgt. Dennoch darf eine antisexistische Praxis diesen Zusammenhang nichtweiter rekonstruieren, weil sie ihn schließlich überwinden,d.h. dekonstruieren will.
Beispiele aus den letzten Wochen: Bei einer Auseinandersetzung um dieAusgrenzung einer politischen Gruppe wurde diese als sexistisch beschimpft,weil sie den Slogan „Fuck off ...“ benutzt hatte. In der Debatte wurdezudem behauptet, Frauen würden ein solches Wort nie benutzen. Abgesehendavon, daß diese Aussage schlicht falsch ist, konstruiert sie Frauenals bessere Wesen – und das aufgrund der „biologischen Frau“. Aber genaudas ist Sexismus, nicht die Benutzung des Wortes „Fuck“ (ob „Fuck“ ausanderen Gründen ein Scheißwort ist und in bestimmten Situationauch sexistisch sein kann, sei dahingestellt, es ist aber nicht per sesexistisch).
Bei der Debatte um TäterInnenschutz wird peinlich genau daraufgeachtet, daß genau bei diesem Begriff das „Innen“ nicht benutztwird, also „Täterschutz“ - als wäre es eine unumstößlicheWahrheit, daß Frauen nie TäterInnen seien, sprich sich aus sexuellerErregung oder aus anderen Gründen an Männer „ranmachen“, ohnezu wissen, ob diese „wollen“, oder sogar entgegen deren definitiv geäußertem„Nein“. Wer nur Männer als potentielle Täter sieht, konstruiertdie Frau als besseres Wesen und bezieht sich erneut auf das biologischeWesen „Frau“; nicht die Sozialisation („gender“) ist dann entscheidend,sondern die Biologie.
Unabhängig von allem aber sei die weiterhin vorhandene mangelndeSensibilität und Beachtung der Autonomie der anderen Person klar kritisiert.Dieses unakzeptable Verhalten geht vor allem von Männern aus, diedamit auch immer wieder ihre sozial privilegierte Position ausnutzen. Vonallen Seiten herrscht Mangel an Mut und Deutlichkeit zur Benennung eigenerGrenzen sowie an Bereitschaft zur Klärung von Befindlichkeiten, zumReden über Sexualität, Intimität und persönlicher Integrität.

6. Die konkreten Mittel antisexistischer Arbeit sind meist Empowerment und nicht Dominanzabbau
Die meisten der gängigen Mittel zur Stärkung der Situationvon Frauen zielen nicht auf den Abbau von Dominanz, sondern auf ihre Stärkungin den weiter bestehenden Herrschaftsstrukturen. Damit zeigen sie die gleicheLogik wie die Politik des Empowerments, der neoliberalen Gleichberechtigungspolitikeiner globalen Wirtschaft, die Frauen fit (leistungsstark) machen willfür die Anforderungen des Marktes. Vergleichbares gilt für „linke“politische Bewegungen, wenn Voraussetzungen geschaffen werden, um Frauen„fit“ zu machen für die vorhandenen Dominanzstrukturen. Je nach Gradformaler Hierarchie reicht die Spanne konkreter Praxis von der Quotierungbei der Besetzung von Vorstandsämtern über kollektive Jubelorgien,wenn überhaupt mal eine Frau in einem Führungsgremium sitzt (z.B.einige Verbände) bis hin zur quotierten Redeliste. Sie alle förderndie „Frau“ als biologisches Wesen; soziale Kategorien werden nicht geführt.Die dahinterstehende biologistische Logik, Frauen seien per se nicht dominantund Männer per dominant ist aber nicht nur absurd, sondern einfachnur sexistisch. Die Folge ist nicht, daß weniger dominante Menschenoder alle Frauen gefördert werden, sondern gezielt dominante Frauen.Eine Redeliste mit Frauenquotierung führt in der Regel dazu, daßdie wenigen dominanten Frauen sehr viel reden können, weil sie selbstdann, wenn sie sich das 20. Mal melden, noch bevorzugt werden – auch gegenübereinem Mann, der sich nach zwei Stunden das erste Mal meldet. Abweichende,an Dominanzabbau viel eher orientierte Quotierungen (z.B. die Bevorzugungderer, die sich das erste Mal melden) setzen sich in der „Linken“ kaumdurch – ein deutliches Zeichen, daß es nicht um Dominanzabbau, sondernum Empowerment und Machtgewinn für dominante Personen geht - hierfür dominante Frauen.
Es spricht sogar einiges dafür, daß die Herrschaftsverhältnissedurch die Beteiligung von Frauen an Dominanzgremien gestärkt werden,denn im Konkreten werden innerhalb der Führungsgremien meist wenigerdominante Männer gegen die jeweils dominantesten Frauen ausgetauscht– das Gefälle von Dominanz zu Unterwürfigkeit wird dadurch oftgesteigert. Zudem sind quotierte Dominanzgremien akzeptierter und könnendamit ihre Macht direkter ausüben. Das klassische, moderne Herrschaftsprinzip„Integration statt Repression“ wirkt auch in „linker Bewegung“. Dominanzstrukturenabzubauen wird dabei unterlassen, es gibt auch wenig Experimente und Vorschläge,wie das geschehen könnte.

7. Die Reduzierung antisexistischer Praxis auf die Selbsterfahrungsebene wirkt entpolitisierend
Es entspricht zwar der aktuellen Logik „linker“ Debatte auch in anderenThemen, aber das macht es nicht besser: Bei der Formulierung praktischerMöglichkeiten wird als einziger Vorschlag oft formuliert, Männer(natürlich wieder am biologischen Geschlecht definiert) sollten sichmit sich selbst beschäftigen. Oft fehlt sogar jeder Hinweis auf dasWas, Wie und Wozu. Die Beschäftigung mit dem Thema verkommt zum Selbstzweck– auch (besonders auffällig) in Plena oder auf Treffen, wo oftmalsdie Beschäftigung mit dem Thema Sexismus ohne konkrete politischeBezüge eingefordert wird. Damit wird nicht nur der Eindruck erweckt,das Reden könne konkrete Veränderungen ersetzen bzw. die Quantitätdes Geredes könne die schlimme Realität irgendwie verbessern.Nein, es wird immer wieder formuliert, daß ein zu geringer Zeitanteilfür Sexismusdebatte schon ein Zeichen für Sexismus sei. Damitwird Sexismus entpolitisiert und zum Argument für die Durchsetzunggewünschter inhaltlicher Schwerpunkte und Tagesordnungspunkte.
Beispielzitat aus einem Text aus anarchistischen Kreisen mit Titel „Anarchafeminismus“: „... Anarchafeministinnen nennen sich Frauen, diesich als Anarchistinnen bezeichnen aber der Meinung sind, dass sich dieanarchistischen Männer noch einige Gedanken zum Geschlechterverhältnismachen müssen“.
Nebenbei sei angemerkt, daß aufgrund des Einforderns einer ausschließlichnach innen gewandten und nicht mit politischen Positionen und Kategorienverbundenen Diskussion in Selbsterfahrungsgruppen die Gefahr neuer Definitionenvon Wertigkeiten aufgrund des biologischen Geschlechts entstehen. In derPraxis wird oft schon der Vorwurf der Nicht-Beschäftigung mit Sexismuserhoben, sofern ein Mann (natürlich wieder im biologischen Sinne)keiner Männergruppe, Therapiegruppe u.ä. angehört.

8. Eine abgetrennte Sexismusdebatte ist unvereinbar mit Herrschaftskritik
Zur „normalen“ Sexismusdebatte gehört die Position, daßSexismus eine ganz besondere, eigenständige Form der Unterdrückungsei. Daraus wird abgeleitet, daß es lohnenswert sei, Sexismus separatzu diskutieren und möglichst abzuschaffen (durch Empowerment der nachihrer Biologie definierten Frauen, d.h. ihrer Stärkung und z.B. beruflichen,rhetorischen, ämterbezogenen Förderung innerhalb der bestehendenHerrschaftsverhältnisse). Auf diese Art werden andere Unterdrückungsverhältnisseverdrängt. Die Argumentationsweise ist ähnlich der früher(und z.T. heute auch noch) gängigen, erst müsse der Kapitalismusabgeschafft werden, dann regele sich alles weitere von selbst. Jedoch:Herrschaftsverhältnisse sind prägendes Element der gesellschaftlichenSituation von der „großen Politik“ bis in die Kleinstrukturen auch„linker“ Bewegung oder Beziehungen zwischen „linken“ Menschen hinein. Frauensind nicht wichtiger als Kinder, Nicht-Deutsche, sog. „Behinderte“ oderviele andere, die die Herrschaftsstrukturen aufgrund der gesellschaftlichenSetzungen härter treffen als andere. Der Kampf muß überallund immer gegen die Herrschaftsverhältnisse gerichtet sein, die Logikvon Haupt- und Nebenwidersprüchen, Rangfolgen der Wichtigkeit vonUnterdrückungsverhältnissen usw. zeigt dagegen eine Wertigkeits-Rangfolgezwischen Menschen.

9. Definitionsmacht ist herrschaftsfördernd, die absolute Definitionsmacht von Frauen ist sexistisch
Jegliche Form von Definitionsmacht ist Herrschaft. Wo die subjektiveWahrnehmung einzelner Menschen zur objektiven Wahrheit definiert wird,d.h. die individuelle Wahrnehmung ist gleich der von allen zu akzeptierendenWahrheit, geht jeglicher sozialer Prozeß verloren. Die Existenz vonMacht, d.h. der Verfestigung und Verstetigung unterschiedlicher Möglichkeitenvon Menschen, aber ist immer auch die direkte Vorstufe zum Mißbrauchvon Macht. Die Ablehnung von Definitionsmacht sagt allerdings nicht aus,daß ein Schutzbedürfnis der sich als angegriffen fühlendenPerson negiert wird. Opferschutz geht vor Täterschutz – aber grundsätzlichgibt es keine gepachtete Wahrheit!
Zudem bezieht sich die Definitionsmacht der Frau erneut auf die biologische „Frau“, nicht aber auf die soziale Situation, also z.B. das Opfer. Dasbedeutet z.B., daß auch dann, wenn ein Mann von einer Frau gegenseinen Willen sexuell angemacht oder berührt wird (was deutlich seltenerder Fall ist), weiterhin die Frau das Definitionsrecht behält – eineabsurde Situation. Der durchaus verbreitete Sexismus z.B. von Lesben gegenüberHeterofrauen (Aussagen wie „unterentwickelte Sexualität“ u.ä.sind immer wieder anzutreffen) bleibt entsprechend folgenlos. SexistischeAnmachen gegen Männer („alle Männer stinken“, „alle Männersuchen nur nach Löchern, wo sie ihren Schwanz reinstecken können“,„alle Männer wollen immer oben liegen“, „alle Männer sind potentielleVergewaltiger“ usw.) sind sogar „in“. Erfolgt eine Einteilung, wer Rechthat und wer nicht, nach dem biologischen Geschlecht, so ist das sexistisch.
Ergänzung 31.10.2000: Die Logik patriarchaler Verhältnisse,d.h. der verinnerlichten Herrschaftsverhältnisse aufgrund gesellschaftlichvermittelten Selbstwert- und Rollenempfindens (Konstruktion), ist nichtauf das Geschlechterverhältnisse zu beschränken. Es tritt genausozwischen Menschen auf, die andere Ungleichheiten als Dominanzgefälleverinnerlicht haben, z.B. zwischen DirektorIn und HausmeisterIn, LehrerInund SchülerIn usw. Die Männerdominanz wirkt zwar auch hier immerverschärfend, aber eine dem Patriarchat entsprechende Logik einerverstetigten Dominanz findet sich auch bei gleichgeschlechtlichen AkteurInnenmit anderen, gesellschaftlich dauerhaft definierten Wertigkeitsunterschiedenwieder.

10. Die einseitige und alleinige Schuldzuweisung an Männer ist sexistisch und verhindert Veränderungen
Beispiel: In einem aktuellen anarchistischen Flugblatt wird die Aufteilungvon „Politischem (Männer) und Privatem (Frauen)“ beklagt und ursächlichauf Männer zurückgeführt. Zum einen findet sich wieder dieEinteilung in die biologischen Geschlechter, zum zweiten übersiehtdiese Theorie die wahren Ursachen, nämlich die gesellschaftliche Konstruktionvon Identitäten und Rollen, Erwartungshaltungen und persönlichenZielvorgaben. Die Verteilung von Dominanz und Rollen in der Gesellschaftwird gerade nicht von Einzelnen handgreiflich/physisch durchgesetzt (Ausnahmenbestätigen die Regel), sondern ergeben sich wie von selbst als Folgeder Vorgaben, Rahmenbedingungen, einem Gemenge von Belohnung, Drohungenund Androhung von Entzug sowie der kontinuierlichen Identitätsbildungz.B. in den Kategorien Mann/Frau. Auch aus konkreten Erfahrungen herausist uns bekannt, daß immer wieder viele Frauen (aber nicht nur Frauenund auch längst nicht alle, denn es ist keine Folge des biologischenGeschlechts!!!) die Priorität des Privaten einfordern und sich sogardann um das Private kümmern, wenn ausdrücklich eine gleichberechtigteVerteilung oder, je nach konkreter Lage, eine gemeinsame Auseinandersetzungmit politischen Aktivitäten gewünscht ist. Das ist auch nichtüberraschend, sondern die Folge der Konstruktion gesellschaftlicherRollenverteilungen, die „wie von selbst“ ständig und von (fast?) allenreproduziert werden. Mit der Negierung dieser Tatsache entstehen falscheAnalysen und Vorschläge für eine Veränderung der Situation– eben nicht die Dekonstruktion patriarchaler Machtverhältnisse, sonderndas Empowerment der Frauen und die Entstehung des „entgeschlechtlichten“Patriarchats (will heißen: Die patriarchalen Rollenlogiken bleibenin der Gesellschaft vorhanden, wenn auch die offensichtlichen Positionenvermischbar sind, d.h. immer mehr Frauen typische Männerrollen einnehmenund umgekehrt – die Rollen aber bleiben).

11. Die Qualität der Diskussion leidet unter Machtkämpfen, Denunzierung und Zensur
Die „mainstream“-Debatte im Sexismus ist ausgrenzend und arrogant.Sie versucht, abweichende Positionen zu verhindern. Als Mittel wird dabeider Sexismusvorwurf selbst angewendet, d.h. nach dieser Logik ist bereitsein Sexist, wer eine definierte Vorgabe, was Sexismus ist und was nichtoder wer wann was definieren kann usw., in Frage stellt. Regelmäßigwerden in „linken“ Zeitungen (z.B. in einigen der letzten Ausgaben derInterim) Texte als sexistisch denunziert, die selbst gar nicht mehr abgedrucktwerden. Eine solche Diskussion spielt sich auf unterstem Niveau ab undhat nichts mit politischer Auseinandersetzung zu tun. Zensur als aktivesund gezieltes Steuerungsmittel in laufenden Debatten ist nie richtig, sondernist stets die Ausübung von Macht. Eine Debatte, in der eine Seite„geschwärzt“ wird, ist inhaltlich nicht vorwärtsbringend. UnsererEinschätzung nach geht es dabei oft auch nicht um die Durchsetzungantisexistischer Politik intern und extern, sondern um Schaffung bzw. Erhaltungeigener Macht oder die gezielte Entmachtung Anderer.

12. Es fehlt eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Theorie und Praxis – antisexistisches Eventhopping
Antisexistische Diskussion und Praxis unterliegt seit Jahren keinerkontinuierlichen Weiterentwicklung mehr. Ganz im Gegenteil sind immer öfterRückschritte zu verzeichnen. So sind Schritte, die vor Jahren ausder Diskussion heraus erfolgt sind, heute wieder vergessen oder nicht mehrselbstverständlich – z.B. Quotierungen (auch dann, wenn wir hier ihreÜberwindung im Sinne einer Weiterentwicklung fordern, kritisierenwir das ersatzlose Zurückfallen hinter dieses Prinzip) oder geschützteFrauenräume auch auf zeitlich begrenzten Treffen (Camps, Aktionen,Kongresse).
Aktuelle Debatten knüpfen immer an konkreten Vorfällen an,bauen nicht aufeinander auf, sondern fangen immer wieder bei „Null“ an,orientieren sich nicht an gesellschaftlichen Analysen und Visionen, sondernstellen letztlich eine Art antisexistischen Eventhopping dar.

13. Nicht der Sexismus wird angegriffen, sondern die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Sexisten
Bislang gibt es nur sehr wenige und auch nur Details verbessernde praktischeVeränderungen (wobei die trotzdem wichtig sind). Häufig wirdheute der Sexismus als Unterdrückungsform nicht als solches angegriffen,sondern einzelne Personen. Dies verschleiert, daß die sozial konstruiertenRollenverteilungen und Herrschaftsverhältnisse durchgängig vorhandensind. Diese antisexistische Politik ähnelt z.B. solchen Formen antifaschistischerKämpfe, die nur Einzelne (z.B. Glatzen) als Ziel ihrer Aktion sehen,aber die faschistoide Normalität übersehen, oder z.B. Umweltschutzorganisationen,die glauben, ökologische Ziele über kapitalistische Logiken umzusetzenund daher in Staat oder Konzernen ihre Partner finden.
Hinzu kommt, daß die Denunzierung als Sexist in einigen Fällengezielt eingesetzt wurde und wird, um Personen oder Gruppen zu schädigen/auszugrenzen.Leider werden diese Fälle immer besonders bekannt, was ja auch dasZiel ist, schließlich wirkt eine Ausgrenzung nur, wenn sie bekanntwird. Die Sexismusdebatte wird dadurch immer wieder schwer geschädigt,denn inzwischen fällt es schwer, bei Vorwürfen des „Täterschutzes“,des „sexistischen Verhaltens“ oder gar der „Vergewaltigung“ noch zu unterscheiden,wo tatsächlich sexistische Übergriffe stattfanden oder ob solcheBegriffe eher als denunzierendes Schimpfwort (ähnlich „Arschloch“,aber wegen des Antisexismus-Kodex wirksamer) benutzt wurden.

14. Die Unfehlbarkeit von FrauenLesben-Zusammenhängen trägt reaktionäre Positionen in die „Linke“
Einige (keine Mehrheit) FrauenLesben-Gruppen, -Einrichtungen (z.B.Seminarhäuser), -redaktionen u.ä. bringen über ihren Statusder Unangreifbarkeit und des Selbstdefinitionsrechts reaktionäre,vor allem esoterische, mythische Positionen ein. Zu finden sind sie inzwischenmassenweise in linken Zeitungen, in den Auslagen und Terminprogrammen linkerZentren usw. Eine Kritik an solchen Frauenzusammenhängen ist kaummöglich, weil sie sich selbst als FrauenLesben absondern und Kritikan ihren Positionen mit Hinweis auf eigene Selbstbestimmungsrechte abwehren– aber auch, weil diese Kritik von anderen sofort als „frauenfeindlich“abgewiesen wird.

15. Die Debatte um Sexismus verhindert unmittelbare Intervention
Sexismusdebatten erkennen meisten Herrschaftsstrukturen und Stellvertretungslogikenan, d.h. die Einzelnen sind nicht mehr verantwortlich für sich unddas Geschehen. Statt unmittelbarer Intervention und direkter Reaktion aufalle Formen von Unterdrückung werden Sexismusdebatten in Plena oderandere Entscheidungsstrukturen hineingetragen. Das stärkt die Machtstrukturenund verhindert das kontinuierliche antisexistische Verhalten der Einzelnen.
Nötig bleibt die Debatte und Entscheidung in den jeweiligen Gruppen-bzw. Entscheidungsstrukturen, wo eine direkte Intervention nicht (mehr)möglich ist. Hierfür fehlen aber fast über klärendeVerfahrensabsprachen. Es gibt keine kontinuierliche Entwicklung von Umgangsformen.

16. Die Gewichtung auf einen oberflächlichen Verhaltenskodex verhindert grundlegende Verbesserungen
Neben dem Vorwurf sexistischer Übergriffe bis zur Vergewaltigungsteht die Kritik an falschen Verhaltensweisen z.B. im Sprachgebrauch imMittelpunkt. Die männliche Sprachform (ohne „Innen“) bis hin zu lauten,gestikreichen Redebeiträgen werden dabei angegriffen. In einigen Fällenwird dabei eine Gleichheit angestrebt, die der Entfaltung der Persönlichkeitenentgegensteht. Gleichzeitig werden grundlegende Veränderungen verhindertoder verzögert, weil das Hauptaugenmerk auf die Einhaltung des Verhaltenskodexgerichtet ist. Das ermöglicht wiederum Männern mit guter Rhetorikund Erfahrung, durch perfekte Übung im antisexistischen Vokabularnach neuen Mustern alte Dominanzen zu schaffen. Der Blick auf diskriminierungsfreieSprache und Gestik ist wichtig, wirkt aber unserer Einschätzung nachkontraproduktiv, wenn er zum Hauptkriterium wird oder die Vielfalt vonPersönlichkeiten einschränkt über das Ziel der Sexismusbekämpfunghinaus.

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