Antirepression

GESCHICHTE DER PRODUKTIVKRAFT UND DIE ÖKONOMISCHE UNTERDRÜCKUNG DES MENSCHEN

Ökonomische Zwänge, Abhängigkeit und Kapitalverteilung


1. Produktivkraft: Tätigkeit als Gestaltung von Umwelt und Gesellschaft
2. Geschichtliche Entwicklung der Produktivkraft
3. Von der personal-konkreten zur abstrakten Vergesellschaftung
4. Ökonomische Zwänge, Abhängigkeit und Kapitalverteilung
5. Links

Die Produktivkraft kann, wie andere Quellen sozialer Evolution auch, sehr unterschiedlichen Zielen dienen. Das hängt von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab - vom Willen der Einzelnen und der Art, wie sich diese zu Kooperation und Austausch verbinden, oder von den vereinheitlichenden Diskursen und Normen, die den Einzelnen zum Objekt in einem übergeordneten Gesamtprojekt machen, also als Rädchen in einem System.
Dieses besteht heute in Form des Zwanges zur Profitabilität und zur Verwertung aller Werte. Die Ausrichtung menschlicher Schaffenskraft auf verwertbare Ergebnisse und die ständige Wiederverwertung jedes geschaffenen Wertes richtet soziale Entwicklung auf bestimmte Aspekte aus. Sowohl die ständigen Tätigkeiten als auch neue Erfindungen und Pläne dienen überwiegend diesem wirtschaftlichen Ziel, das von der Frage eines besseren Lebens der Menschen abgekoppelt ist.
Produktivkraft ist nicht selbst der Auslöser, sie könnte auch anderen Zielen dienen, z.B. als Teil der Selbstentfaltung des Menschen, der Verbesserung von Kooperationen oder Schaffung gleicher Handlungsmöglichkeiten. In der heutigen, auf Wirtschaftsinteressen ausgerichteten Welt dient die Produktivkraft der steigenden Produktionsgeschwindkeit, der Bildung von Kapital bis Monopolen, der besseren Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen sowie der Steigerung von Steuerungs- und Kontrollmethoden. Sie ist somit eine Destruktivkraft in Bezug auf menschliche Freiheit und Emanzipation.

Marktwirtschaft & Co. als erzwungene Kooperation
Der Mensch braucht Reproduktion und er will Genuß - materielle wie immaterielle. Er kann diese autark (für sich), in kleinen autarken bis umfassend selbstorganisiert-kooperativen Gruppen erreichen (Subsistenz) oder über den Markt. Marktwirtschaft ist eine Verregelung der Befriedigung von Bedürfnissen. Sie schreibt die Formen vor, wie mensch an Waren und Dienstleistungen bzw. an Geld oder andere Tauschwerte kommt, um wiederum Waren und Dienstleistungen zu erhalten. Dabei kann der Markt anonym sein, d.h. ProduzentInnen von Waren und KonsumentInnen kennen und begegnen sich nicht, oder direkt, z.B. beim persönlichen Tausch. In beiden Fällen bleibt aber das Prinzip von Wert, Wertung und Verwertung voll entwickelt. Daraus folgen Zwänge. Der Markt selbst ist damit eine Herrschaftsform in Form von Regeln. Dieses Regelwerk bestimmt Unterschiede zwischen den Menschen. Es gilt die totale Konkurrenz, d.h. im Markt ist es immer so, dass der Vorteil des einen zum Nachteil des Anderen (meist eines Dritten, nicht der direkt Handelnden) wird. Das ist oft sehr brutal, weil es viele Menschen in materielle Not und Abhängigkeit treibt. Der Neoliberalismus hat zudem totalitären Charakter, weil es die Regeln des Marktes in jeder Region der Welt und auf jede Lebenssituation ausdehnen will.

Die Verbindung mit den direkten Herrschaftsformen ist eng: Ohne sie gäbe es keinen Markt. Die Verwertung basiert auf Eigentumsrecht und den Zwang zur Verwertung im sogenannten “freien Markt”. Institutionen, am auffälligsten dann, wenn Armee und Polizei einschreiten, sichern diese Verhältnisse - oder setzen sie erst durch. Das geschieht z.B. durch die Vertreibung von Menschen von ihrem Land oder aus bisher bodeneigentumsfreien Regionen, die es auf der Welt immer noch gibt und die rein flächenmäßig bis vor wenigen Jahrhunderten prägend waren. Direkte Handelsbeziehungen und lokale Märkte werden zerschlagen, um alles der großen, als frei behaupteten Marktwirtschaft zu unterwerfen. Tatsächlich beruht der freie Markt auf der erzwungenen Teilnahme an ihm. Die Alternativen zum Überleben werden entzogen. Wer überleben will, muss am Markt teilnehmen. Diesen Zwang schaffen institutionalisierte Herrschaftsverhältnisse. Daher gibt es Zweifel, ob die marktförmige Herrschaft, die Kapitalverhältnisse und der Verwertungszwang tatsächlich eine von der formalen Herrschaft abgetrennbare Kategorie der Beherrschung sind. Diese Zweifel sind berechtigt - kein Markt existiert ohne Staat (oder eine ähnlich wirkende Herrschaftsform). Daher sind auch alle politischen Strategien, den Markt über eine Stärkung des Staates (Reregulierung, Steuern, Gesetze usw.) einzuschränken, schon vom Ansatz hier falsch.
Dennoch scheint berechtigt, die Herrschaft des Marktes von der personalen zu unterscheiden. Denn sie funktioniert zwar auf der Basis und mit ständiger Androhung personaler Herrschaftsverhältnisse, wirken aber auch dort fort, wo diese nicht selbst sichtbar werden. Der Markt ist ein Regelwerk, dass aufgrund allgemeiner Akzeptanz reibungslos funktioniert - trotz seiner offensichtlichen Brutalität für die VerliererInnen sowie den Zwang zur fremdbestimmten Ausbeutung von Denk- und Arbeitskraft fast aller Menschen. Die dauernde Zuschreibung von Werten für alle materiellen Dinge (Stoffe, Produkte, immer mehr auch des Menschen, seiner Organe, Arbeits- und Zeugungsfähigkeit, Gene usw.) und allen Wissens zum Zweck der Verwertung, also des Kaufs und Verkaufs, der Mehrwertabschöpfung, des Tauschs oder der Kapitalakkumulation, kommt einer kontinuierlichen, sich selbst reproduzierenden Verwertungs”maschine” gleich.

Die Herrschaft der “schönen Maschine”
Lange Zeit sah man in der Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung des produzierten Mehrwerts das zentrale Problem des Kapitalismus. Folglich bestand in der Eroberung der Verfügung über die entscheidenden Produktionsmittel der Schlüssel zu einer gerechteren Welt. Doch was ist gewonnen, wenn die Arbeiter die Macht haben? Die historischen Erfahrungen wurden in den realsozialistischen Ländern gemacht. Diese Versuche scheiterten nicht vorrangig an subjektiven Fehlern, sondern weil sie objektiv den gleichen Gesetzen der maßlosen Selbstverwertung von Wert unterlagen, wie alle anderen Staaten der Erde auch. Sie mussten in der globalen Konkurrenz schließlich kapitulieren. Was ist gewonnen, wenn die Beschäftigen “ihre" Firma übernehmen? Sie müssen den gleichen Gesetzen gehorchen, wie die private Konkurrenzfirma auch. Die automatische Geldmaschine duldet keine Ausnahmen. Hans-Olaf Henkel, Chef des Unternehmervereins, hat diesen totalitären Mechanismus so auf den Punkt gebracht: “Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch, sondern der Markt. (...) Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet.” (Süddeutsche Zeitung, 30.05.1996)
Es geht also nicht um einen bösen Willen, den finstere Mächte durchsetzen, sondern um die Befolgung der Regeln des kybernetischen Systems Kapitalismus. Marx nannte die Rollen, die die Menschen in der sich selbst reproduzierenden Wertmaschinerie einnehmen, “Charaktermasken”.

Marx 1976/1890 (S. 591)
Die ökonomische Charaktermaske des Kapitalisten hängt nur dadurch an einem Menschen fest, dass sein Geld fortwährend als Kapital funktioniert.

Der Kapitalist als “personifiziertes Kapital” exekutiert den immanenten Zwang zur Expansion und Niederringung der Konkurrenz wie der Arbeiter als “Lohnarbeiter” seine Arbeitszeit verkaufen muss, um zu existieren. Und selbst diese Grenzen sind heute fließend. Gibt es also keine Herrschenden, die man ob der Ungerechtigkeiten anklagen muss? Doch die gibt es, aber es ist nicht damit getan, Personen auszutauschen oder die “Macht” zu übernehmen. Solange die Grundstrukturen der kapitalistischen Geldmaschine unangetastet bleiben, ändert sich wenig bis nichts. Die ökologische Marktwirtschaft ist ein Hirngespinst. Wir müssen das Programm, das Adam Smith 1759 formulierte, sehr ernst nehmen: “Es macht uns Vergnügen, die Vervollkommnung eines so schönen und großartigen Systems zu betrachten und wir sind nicht ruhig, bis wir jedes Hindernis, das auch nur im mindesten die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen stören oder hemmen kann, beseitigt haben.” (Smith 1977/1759, zitiert nach Kurz 1999).
Die Rolle der Herrschenden ist es, das Laufen der “schönen und großartigen” Wertmaschine ungestört aufrecht zu erhalten. Jeder Gedanke an eine Alternative zur Geldmaschine soll als irreal diskreditiert werden - wenn schon “Alternative”, dann nur innerhalb der “schönen Maschine” (Kurz 1999). Hier hatte die EXPO im Jahr 2000 eine interessante Funktion. Sie sollte uns die “Schönheit” und “Großartigkeit” des Systems demonstrieren und Alternativen innerhalb des System vorgaukeln. Dafür ließen sich selbst vorherige KritikerInnen weltweiter Ausbeutungsstrukturen in die Rechtfertigungsveranstaltung EXPO einbinden. Sie trugen mit dazu bei, das System der Marktwirtschaft als System der Herrschaft der Märkte über die Menschen zu naturalisieren. Solche Beispiele gibt es zuhauf:

Václav Havel 1992 (S. 59ff)
Sosehr auch mein Herz schon immer links von der Mitte meiner Brust schlug, habe ich immer gewußt, dass die einzig funktionierende und überhaupt mögliche Ökonomie die Marktwirtschaft ist. (...) Die Marktwirtschaft ist für mich etwas so Selbstverständliches wie die Luft: geht es doch um ein jahrhundertelang (was sage ich - jahrtausendelang!) erprobtes und bewährtes Prinzip der ökonomischen Tätigkeit des Menschen, das am besten der menschlichen Natur entspricht.

Sven Giegold im Jahr 2004 auf einer 1.-Mai-Rede in Fulda
Ich bin nach realistischer Abwägung der Vor- und Nachteile ein Befürworter der Marktwirtschaft.

Fazinierend ist die Dreistigkeit, mit der die Marktwirtschaft oft nicht nur der menschlichen Natur, sondern auch noch der gesamten Menschheitsgeschichte zugeschlagen wird. Oder es ist bodenlose Unkenntnis der historischen Fakten, die klar zeigen, dass die abstrakte Selbstverwertung des Werts über Märkte mit brutaler Gewalt und Zwang, dass die “ursprüngliche Enteignung” gegen die subsistenzwirtschaftlichen Strukturen der agrarischen Gesellschaften durchgesetzt wurde. Es ist schlicht falsch, einen “Markt” zum Gütertausch mit dem geldgetriebenen Hamsterradsystem der Marktwirtschaft gleichzusetzen. Nicht überall, wo ein Markt zum Tausch von Gütern existiert, herrscht auch die “Marktwirtschaft”!

Unterwerfung und Unterwürfigkeit
Auch wenn noch so oft die ArbeiterInnen als revolutionäres Potential beschworen werden – es hilft nichts: Von Lohnzahlungen abhängig zu sein, führt meist zu einer unfassbaren Unterwürfigkeit. Ob FahrerIn, PolizistIn, AbteilungsleiterIn oder KassiererIn – gemacht wird, was aufgetragen wurde. Oft ist das harmlos, aber SSler, die ihre eigenen Verwandten oder ehemaligen FreundInnen verhafteten, oder KZ-Wärter, die selbige massakrierten, zeigten, in welche Dimensionen diese Fremdsteuerung geht. Diese Menschen sind nicht egoistisch oder egozentrisch. Gerade das sind sie nicht, und das ist das Schlimme. Sie verzichten auf eine eigene Sichtweise und lernen, eigene Wahrnehmung auszuschalten. Sie verkaufen sich, ihre sozialen Beziehungen, ihren Willen und ihre Produktivkraft an fremde Ziele. Sie funktionieren in der gewünschten Rolle, sie sind "willige Vollstrecker" in (fast) allen Aktivitäten.

Das funktioniert stabil, denn viele wollen das. Denn der Zwang zur Unterwerfung ist gepaart mit dem Heilsversprechen materieller Absicherung, gesellschaftlicher Anerkennung und Teilhabe. Rädchen im System zu sein, erscheint funktional, um Existenzängste zu beruhigen. Bei näherer Betrachtung ist das zwar eine Folge des harten Entzugs anderer Überlebenssicherung und der Diskurse über Arbeit und Wert des Menschen. Die Hilfslosigkeit und Ohnmacht, die Menschen in die Erwerbsarbeit und Teilnahme an marktförmiger Reproduktion treibt, sind systembedingt und damit änderbar. Aber die Macht der Einzelnen ist begrenzt, so dass eine starke Neigung besteht, die angebotene Option der Überlebenssicherung zu ergreifen statt die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Aus Thomas Wagner (2011), "Demokratie als Mogelpackung" (S. 17)
Damit Freiheit und gleiche Partizipation möglich werden, dürfen die sozialen Lebensverhältnisse der Individuen nicht zu weit auseinanderliegen.

Zum nächsten Text im Kapitel über die Geschichte sozialer Organisierung: Diskurse und Deutungen

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