Demorecht

DEN KOPF ENTLASTEN? WOHER KOMMEN UND WAS SOLLEN "VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN"?

Einleitung


1. Einleitung
2. Definitionen
3. Was braucht es und was macht alles so attraktiv?
4. Cui bono - sind die Nutznießer von Ereignissen auch deren Verursacher?
5. Vereinfachte Welterklärungen an Beispielen
6. Können "Verschwörungstheorien" auch nützen?
7. Gegenmittel: Skeptisches Denken
8. Wer klärt auf und enthüllt "Verschwörungstheorien"?
9. Was sagen die Kritisierten zur Kritik?
10. Warum werden solche "Theorien" eigentlich verbreitet?
11. Links und Materialien
12. Buchvorstellungen zum Themenbereich


Vortrag "Den Kopf entlasten" am 20.2.2016 in der Kolbhalle in Köln (Referent: Jörg Bergstedt)

Film "Empörung und Verschwörung" ++ Veranstaltungsangebot: "Den Kopf entlasten"


Warum dieser Text?
Im Original: Persönliche Erlebnisse
Mehrfach nach Vorträgen über deutsche Gentechnik-Seilschaften ("Monsanto auf Deutsch") wurde von BesucherInnen, zum Teil aber sogar von den VeranstalterInnen im Auditorium oder später am Kneipen- bzw. Frühstückstisch in Zweifel gezogen, dass der zweite Weltkrieg durch Deutschland angezettelt oder Juden im Dritten Reich umgebracht wurden. Kritische Nachfragen konnte niemand beantworten. Stattdessen wurde wiederholt, das alles hätte noch niemand beweisen können. Benannte mensch dann Fotos, Berichte und auch logische Fakten, so folgte darauf: "Haben Sie das selbst gesehen oder überprüft?" Ersteres natürlich nicht - und schon war manch nach einfachen Modellen suchender Kopf befriedigt.

Und massenweise z.B. im Internet. Unter dem Header "Willkommen im Faschismus" wurde beispielsweise eine Presseinformation zu den Gentechnik-Seilschaften gebloggt - ein schönes Beispiel für die Weltvereinfachungssuppe. Irgendwie alles Böse zusammengepanscht:


Analytisches Denken ist anstrengend. In einer komplexer werdenden oder aufgrund des Zugangs zu mehr Informationen so erscheinenden Welt geht Orientierung verloren. Diese muss durch intensiveres Hinschauen, Hinterfragen, Recherchieren und Abwägen wiedergewonnen werden - oder mensch geht den bequemeren Weg und schließt sich vorgegebenen Meinungen, Ideologien und Sinnstiftungen an. Eine dritte Variante wäre, im Trüben der Informationsüberflutung nach vereinfachten Welterklärungen zu fischen, die einem zumindest scheinbar wieder ein Handwerkszeug geben, die so anstrengend komplizierte Welt zu erklären. Sie geben Antworten darauf, wo die Guten (einschließlich einer/m selbst) und wo die Bösen (Anderen) stehen, machen die Welt des Bösen sichtbar und sind dabei nicht allzu anstrengend für den eigenen Kopf. Um diese Weltvereinfachungen soll es hier gehen. Mit ihrer Hilfe wird der (anstrengende) Versuch aufgegeben, die eigene Lage, das Umfeld und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu durchschauen. Auf diese Weise entsteht nicht nur Anfälligkeit gegenüber gefährlichen, z.B. diskriminierenden Denkschablonen, sondern die verkürzten Analysen sind einer der Gründe, warum politischer Protest ständig ins Leere läuft. Denn wo die Fähigkeit zur analytischen Kritik des Ist-Zustandes fehlt, mutiert die Gegenwehr zum Kampf gegen Windmühlen oder zerläuft im Gefühl von Ohnmacht gegenüber den vermeintlich entdeckten, bösen Mächten dieser Welt, die alles steuern und in den Händen halten.
Was dieses Böse ist, fällt dabei je nach politischer Strömung oder ideologischem Background sehr unterschiedlich aus - es reicht von abstrakten Sphären wie "dem Kapital" oder noch vereinfachter "dem Finanzkapital" über zur Achse des Bösen erklärten Staaten oder Konzernen bis zu konkreten Bankerfamilien, die die Welt lenken. Je steiler das Welterklärungsmodell auf eine einzige Ursache eingeengt wird, desto kruder fallen in der Regel die Erzählungen über das Böse in der Welt aus. KritikerInnen solch vereinfachter Erklärungen werfen deren UrheberInnen mal "verkürzte Kapitalismuskritik" oder Antiamerikanismus vor. Für die am stärksten auf einzelne Ursachen oder Verursacher_innen zugespitzten Theorien wird in der Regel der Begriff "Verschwörungstheorien" gebraucht. Angegriffen würde damit die Vorstellung, dass kleine Kreise bewusst das Böse organisieren, die Welt unterwerfen und nach ihren eigenen Interessen oder Kriterien sortieren. Welche das sein soll, ist in den "Verschwörungstheorien" überraschend häufig gar nicht benannt. Das Böse in der Welt ist einfach so da. Es steuert und zerstört mit seltsamen Motiven - oder schlicht ohne.

Diese Texte sollen einen einführenden Blick auf die Logiken vereinfachter Welterklärungen werfen - ob nun naive Verkürzungen oder zugespitzte "Verschwörungstheorien". Er enthält weder eine vollständige Liste der vielen Einzelfälle und -erzählungen noch der verschiedenen Welterklärungen, die mit Vereinfachungen arbeiten. Außerdem muss hinzugefügt werden, dass es hier nur um die nicht-offiziellen Vereinfachungen geht. Letztlich bilden alle Religion und jede andere umfasssende Heilslehre (z.B. in der Esoterik) solche Vereinfachungen. Statt Analyse und Erkenntnisgewinn, präsentieren sie globale Großerklärungen, die mensch glauben soll. Sie stellen damit einen Großangriff auf das menschliche Denkvermögen dar. Bislang unerklärliche Naturphänomene und aus Interessenlagen heraus geschaffene Hierarchien werden auf eine externe Größe (Gott, kosmische Energie, Weltgeist oder was auch immer) projiziert und damit dem menschlichen Erkenntnisdrang entzogen. Das wollen auch vereinfachte Welterklärungen und "Verschwörungstheorien". Religionen, Esoterik, viele politische Ideologien und Diskurse sind wesentlich verbreiteter als die Beispiele dieses Textes. Das darf nie vergessen werden. Wer zu den VereinfacherInnen des Weltgeschehens auf Distanz geht, sollte Religionen, Esoterik, staatlich dominierte Diskurse usw. nicht vergessen. Es gibt viel zu tun auf dem Weg, das eigene Denken und eine kritische Debatte zu entfachen - als Gegengift gegen alles, was uns Schubladen anbietet, in die wir unseren Kopf legen sollen ...

Eine nette und zusammenfassende Erklärung der Beliebheit und Absurdität von Verschwörungsideologien findet sich im Buch "Ohne festen Boden" von Rike Pätzold - ein Buch, in dem es eigentlich um was Anderes geht.
Eine bestimmte Sorte von Geschichten war im Pandemiejahr plötzlich allgegenwärtig - Verschwörungstheorien oder Verschwörungsgeschichten. Ob Neue Weltordnung, »Deep State«, Echsenmenschen, kinderbluttrinkende Hollywoodstars, die Chinesen oder Milliardäre als Drahtzieher - all diese Geschichten haben gemein, dass sie davon ausgehen, es gebe jemanden, der global die Fäden in der Hand halten und uns unterwerfen wolle. Ob nun durch im Zuge der Zwangsimpfung eingepflanzte Chips, 5G, Chemtrails, Tracking, Menschenhandel und so weiter.
Verschwörungsgeschichten gibt es nicht erst seit der Pandemie. Sie kamen zu allen Zeiten und in allen menschlichen Gesellschaften vor, erlangten vor Beginn der Neuzeit allerdings nur vereinzelt Massenwirksamkeit. Im alten Rom und im Mittelalter wurden sie zur Christenverfolgung instrumentalisiert, im Mittelalter befeuerten sie den Judenhass, aber erst mit der Möglichkeit, diese Theorien durch den Buchdruck zu verbreiten, nahmen sie so richtig Fahrt auf. Illuminaten und Freimaurer lenkten angeblich im Hintergrund die Weltgeschicke, die Protokolle der Weisen von Zion galten als Beweis für eine jüdische Weltverschwörung, und die Anhänger der Fiat Earth Society bestehen bis heute darauf, dass die Erde in Wirklichkeit eine Scheibe und die Mondlandung nur vor getäuscht gewesen sei.
Und jetzt mal Hand aufs Herz: Manche dieser Geschichten sind richtig gut! Waren sie nur nicht so bitterernst gemeint. Ich bin eigentlich eine Freundin wilder Theorien und liebe schräge Geschichten. Zum Beispiel finde ich die Hypothese, dass wir alle bloß in einer Computersimulation leben, ziemlich spannend, genauso wie die - weniger ernst gemeinte - Schlussszene in Men in Black, in der sich die Kamera immer weiter Richtung Himmel zurückzieht, dann in den Weltraum, vorbei an Sonnensystemen und Galaxien, um uns dann zu suggerieren, dass unser Universum nur eine von vielen kleinen Kugeln ist, mit denen Aliens Murmeln spielen. Warum nicht?!
Auch manche Verschwörungsgeschichten bieten ausreichend aufregenden Stoff für Hollywood: verwegene Verstrickungen, skandalöse Entdeckungen, Bösewichte, Geheimkults, Satanisten, Außerirdische - da ist alles drin. Wenn man erst mal eintaucht, fühlt man sich wie Alice im Wunderland.
Das Bestrickende an diesen Geschichten ist, dass sie alles erklä ren, und zwar ganz einfach und schlüssig! Wo die einen Chaos, Gleichzeitigkeit und Zufall sehen, entdecken Verschwörungstheoretiker einen perfiden Plan. Plötzlich ergibt alles einen Sinn. Al les ist mit allem verbunden. Folge dem Geld. Cui bono? Da sind auf einmal Zusammenhänge und Muster, wo vorher nur Chaos war. Wie gut das tut, besonders in Krisenzeiten. Auch wenn es wirklich empörend ist, was man da alles erfährt. Da gibt es die Bösen, die Puppenspieler und die Marionetten beziehungsweise die »Schlafschafe«. Und dann gibt es die Erwachten, die das Spiel durchschaut haben. Von denen manche ihre jeweilige Theorie für so bare Münze nehmen, dass sie ernst machen und bewaffnet ein Restaurant stürmen, weil es vermeintlich im Keller gefangen gehaltene Kinder zu befreien gibt. Allerspätestens dann, wenn Menschen Gewalt anwenden, weil sie Verschwörungsgeschichten aufsitzen, hört es auf, lustig zu sein. Nicht umsonst werden die Anhänger von QAnon in den USA inzwischen als terroristische Bedrohung betrachtet. In Deutschland nahm der Verfassungsschutz die Querdenker ins Visier. Dass sich keine der Behauptungen dieser Bewegungen bewahrheitet hat, scheint die Anhänger allerdings nicht von ihren Überzeugungen abzubringen.
Verschwörungsgeschichten ermöglichen es Menschen, ihre Ängste und ihre Wut gegen ein gemeinsames Feindbild zu richten, es macht das, wovor man sich fürchtet, greifbar und angreifbar. Motive wie Profitgier und Machthunger können wir so viel besser verstehen und einschätzen als die Unwägbarkeiten von Virusmutationen oder die Auswirkungen globaler Handelssysteme, die selbst Experten nicht genau vorhersagen können. Darüber hinaus haben Verschwörungsgeschichten auch eine optimistische Dimension, denn wenn alles Übel nicht allein aus komplexen und schwer zu überschauenden Entwicklungen und Zufällen, sondern aus einem Komplott bestimmter Akteure resultiert, dann ließen sich alle Probleme damit lösen, wenn es diesen Akteuren an den Kragen ginge - und damit ließe sich bestimmt das Rad der Zeit gleich mit zurückdrehen, damit alles so schön wird, wie es niemals war.
Mal angenommen, wir weisen diese Theorien nicht sofort von der Hand-wie wahrscheinlich sind erfolgreiche Verschwörungen tatsächlich? Es ist ja nicht so, dass es nie echte Verschwörungen gegeben hätte. Von der Watergate-Affäre bis hin zum sehr wahrscheinlich aufgetretenen Versuch des Kremls, amerikanische Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen, hat es in der Geschichte eine Vielzahl von Komplotten, Intrigen und Seilschaften gegeben. Die waren aber immer auf einen ziemlich kleinen Personenkreis und meistens sowohl lokal als auch zeitlich begrenzt. Und genau das führt uns zur großen Schwachstelle aller kursierenden Verschwörungsgeschichten: Sie missachten die Komplexität und damit völlige Unmöglichkeit einer globalen Superverschwörung. Die Überzeugung, dass einer oder wenige Strippenzieher eine Verschwörung in der Dimension einer weltweiten Pandemie bewusst und mit dem geplanten Effekt herbeiführen könnten, ist tief im mechanistischen Denken veran kert. Unvorhersehbarkeit, Zufall und Gleichzeitigkeit haben in die sen Verschwörungsgeschichten keinen Platz. In Wirklichkeit pas sieren aber ständig unvorhersehbare Dinge!
Wer zudem schon mal versucht hat, in einer größeren Gruppe von Menschen zu einem Konsens über ein Vorhaben zu kommen und diese Gruppe dann auch noch zu koordinieren, wird sich wahrscheinlich fragen, wie um Himmels willen das in globaler Größenordnung funktionieren soll. Also zum Beispiel über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte hinweg im Geheimen die Weltgeschicke zu lenken. Wie realistisch ist es außerdem, dass Tausende von Menschen eingeweiht wären - denn so viele bräuchte es mindestens für die Logistik einer solchen Verschwörung - und keiner würde sich verplappern?
Die Geschichten über Superverschwörungen basieren auf der Angst vor Kontrollverlust, da sie uns Übersichtlichkeit und Kausalitäten suggerieren, wo tatsächlich Chaos, Gleichzeitigkeit und Zufall zusammenkommen. Das soll nicht bedeuten, dass keine Partikularinteressen mit ins Chaos hineinspielen, aber sie sind nicht der bestimmende Faktor. Superverschwörungen stellen aufgrund ihrer schieren Undurchführbarkeit kein wirkliches Risiko dar. Tatsächlich fallen die Geschichten über sie bei genauerer Betrachtung ihrer Wahrscheinlichkeiten zusammen wie ein Kartenhaus.

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Kommentare

Alex K. am 16.05.2020 - 12:28 Uhr
Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. - Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.


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