ÖKONOMIE OHNE ZWANG UND UNTERDRÜCKUNG
Herrschaftsfrei wirtschaften
1. Herrschaftsfrei wirtschaften
2. Eine andere Produktionswelt ist möglich!
3. Klarstellung: Emanzipation ist etwas anderes als (Neo-)Liberalismus
4. Möglichkeiten und Grenzen dezentraler Wirtschaftsformen
5. Links und Materialien
Dieser Text ist Teil der Gesamtabhandlung "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" ... zum Anfang und zur Gliederung
Das heutige Wirtschaften gleich einer Maschine, die unaufhörliche Mensch und Natur als möglichst billige Ressourcen "frisst", sprich: Sie in ihre Systeme und Abläufe zwingt, ausnutzt und ausbeutet - und nur aus Interesse an der weiteren Nutzung erhält. Mit Freiheit und Selbstentfaltung hat das aus vielen Gründen nichts zu tun, denn der Mensch wird auf seine Arbeitskraft reduziert und gezwungen, diese anderen zu verkaufen. Die natürlichen Ressourcen werden privatisiert, in Wert gesetzt und ausgebeutet. Auch das schränkt den Handlungsrahmen der Menschen ein, denen diese Ressourcen zu ihrer freien Entfaltung fehlen. Begleitende Diskurse machen Menschen gefügig, sich den Bedingungen ständiger Verwertung und Profite zu unterwerfen - und das scheinbar sogar freiwillig.
Doch gibt es überhaupt eine Alternative außerhalb der “schönen Maschine”? Kann eine Produktivkraftentwicklung, die vor allem aus der Entfaltung des Menschen besteht, dem Menschen selbst, an-und-für-sich dienen? Was heißt das für die Form der Vergesellschaftung?
Der Mensch und die große Maschine
Die unbeschränkte Selbstentfaltung des Menschen ist unter den Bedingungen der subjektlosen Selbstverwertung von Wert als Kern der “schönen Maschine” undenkbar. Selbstentfaltung bedeutet ja gerade, dass sich das Subjekt selbst entfaltet, und zwar jedes Subjekt und das unbegrenzt. Dennoch entstehen unter den entfremdeten Bedingungen der abstrakten Arbeit nicht nur neue Beschränkungen, z.B. in der Ausdehnung der Verwertungslogiken auf bisher eigentumslose Ressourcen und in den privaten Alltag hinein oder in der geringeren Vermittlung von Kompetenz für die eigenständige Bewältigung des Alltags. Sondern es tauchen immer wieder auch neue Möglichkeiten auf, z.B. als größere Handlungsspielräume oder mehr Mitbestimmung im Vergleich zu alten Kommandozeiten. Gerade in der zunehmenden und oft prekären Welt wirtschaftlicher Selbständigkeit, von Kleinstfirmengründungen und Ich-AGs, heißt es: “Es gilt das Motto: ‘Tut was ihr wollt, aber ihr müsst profitabel sein’” (Glißmann 1999, S. 151).Ich kann also versuchen, meine individuellen Potenzen entfalten, weil ich selbst an meiner eigenen Entfaltung interessiert bin, weil es Spaß macht und meiner Persönlichkeit entspricht. Ob das gelingt, liegt an mir (einschließlich meiner sozialen Zurichtung, die ich mit mir schleppe) und an den gesellschaftlichen Bedingungen. Sind die Möglichkeiten, dass ich mich selbst als Hauptproduktivkraft entfalte, im Vergleich zu den Zeiten meiner Eltern und Großeltern besser geworden? Oder ist es eine widersprüchliche Lage, in der viele formale Herrschaftsstrukturen überwunden, aber diskursive Zurichtungen an Stärke gewonnen haben? Ist in der heutigen Zeit nicht mehr erlaubt, aber die Fähigkeit zur Selbstentfaltung rückläufig? Umfrageergebnisse decken sich mit eigenen Erfahrungen: Immer mehr, vor allem junge Menschen, wollen gerne toter Fisch sein, der im Kanal mitschwimmt. Vielen fehlt überhaupt die Vorstellung, dass Leben etwas anderes sein kann als Arbeit, Familie, Fortpflanzung (bzw. Sex). Vor allem fehlt es an der Fähigkeit, eigene Ideen zu entwickeln, ja sie überhaupt bewusst zu haben! Soziale Zurichtung und allgemeine Deutungen schaffen heute Menschen, die sich danach sehnen, ein Teil der Maschine zu sein. Das Wiedererstarken anderer Formen von Fremdbestimmung wie Religion, Esoterik, Nationalismus und billige Feindbilder, bestätigen den Eindruck.
Doch selbst wo der Wille da ist und die Fähigkeiten angeeignet werden, sich selbst zu organisieren, geschieht dieses Mehr an Entfaltung in der bestehenden Gesellschaft immer noch unter entfremdeten Bedingungen. Entfaltung ist nur möglich, solange ihre Ergebnisse verwertbar sind, solange ich profitabel bin. Sogar die Love-Parade wurde damit zum profitablen, am Ende tödlichen Geschäft. In jeder Person spiegeln sich damit die unter unseren Bedingungen nicht auflösbaren Widersprüche von Selbstentfaltung und Wertverwertung, von Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch an-und-für-sich und entfremdeter Produktivkraftentwicklung.
Wie sieht die Aufhebung des Widerspruches von Selbstentfaltung und Verwertungszwang in Überschreitung unserer Bedingungen aus? Es geht um die Umkehrung des Satzes von Marx, wonach die “gesellschaftliche Bewegung” durch eine “Bewegung von Sachen” kontrolliert wird, “statt sie zu kontrollieren”. Marx hätte das so sagen können: “Die gesellschaftliche Bewegung wird von den Menschen bewusst bestimmt. Die Bewegung von Sachen wird von den Menschen kontrolliert und dient einzig dem Zweck, ein befriedigendes Leben zu gewinnen.” (kein Zitat).
Aus Gerhard Senft, "Ökonomie, Herrschaft und Anarchie" in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg, S. 159)
Lanza im Originalton: "Es gibt keinen Aspekt der Gesellschaft, der sich ihren Regeln (den Regeln der Ökonomie) entziehen kann. ... Herrschaft nimmt so eine neue Form an, indem sie jeden Aspekt des Lebens in der Gesellschaft lenkt." Die vom Profitmotiv angetriebene Wirtschaft entwickelte sich in der Neuzeit zum hegemonialen Sektor ...
Selbstentfaltung statt Wertverwertung
Die Alternative zur abstrakten subjektlosen Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion durch den Wert (als Bewegung von Sachen) ist die konkrete Selbstorganisation durch die handelnden Menschen selbst - das ist so einfach wie logisch! Oder anders formuliert: Die abstrakte Vergesellschaftung über den Wert wird ersetzt durch eine konkrete Vergesellschaftung der handelnden Menschen selbst. Wir wollen daher auch diese zukünftige Form personal-konkrete Produktivkraftentwicklung nennen.Bedeutet das ein Zurück zu den alten Zeiten der “Natur-Epoche”? Nein, so wie die “Mittel-Epoche” die “Natur-Epoche” aufgehoben hat, so muss die Epoche der menschlichen Selbstentfaltung alle vorherigen Entwicklungen aufheben. “Aufheben” bedeutet dabei sowohl Ablösen als auch Bewahren und in einem völlig neuen Kontext fortführen. Es ist klar, das Menschen natürlich weiter Nahrungsmittel und industrielle Güter produzieren werden, doch es ist ebenso klar, dass sie dies nicht in der gleichen Weise wie bisher tun werden - weil die bisherige ignorante kapitalistische Produktionsweise nicht nur den Menschen unterjocht, sondern auch die Reproduktionsgrundlagen der Menschheit systematisch zerstört. Daran fehlt es in einer freien Gesellschaft aber an Interesse, weil nicht mehr für abstrakte Werte und den Profit gewirtschaftet wird, sondern für ein besseres Leben.
An dieser Stelle kommt oft der Einwand: “Das ist ja utopisch!” - eine verständliche Reaktion. Die herrschende abstrakte Vergesellschaftungsform über den Wert hat alle Lebensbereiche so weit durchdrungen, dass ein Leben außerhalb dessen schier undenkbar erscheint. Wer kann sich schon ein Leben ohne Geld, das über die Lebensmöglichkeiten von Menschen bestimmt, vorstellen? Ein Leben mit “einfach nehmen” statt “kaufen”? Es ist nicht einfach, das zu denken, darum wird nicht nur nötig sein, das “Undenkbare” zu benennen und noch weiter zu präzisieren, sondern auch in Experimenten sichtbar zu machen. Hier geht es uns zunächst einmal darum, zu begründen, dass die Wertvergesellschaftung nicht das Ende der Geschichte darstellt, sondern dass eine personale Vergesellschaftung die entfremdete Form aufheben kann.
Die Tatsache, dass es eine abstrakte Instanz, den Wert, gibt, über den sich die gesellschaftlichen Beziehungen regulieren, hat auch eine positive Funktion: Sie entlastet die Gesellschaftsmitglieder, jeden Einzelnen individuell von der Notwendigkeit, “die ganze Gesellschaft” zu denken. Ich muss mich nur mit meinem unmittelbaren Umfeld beschäftigen, alles andere regelt sich schon. So paradox es klingt: Die personalisierende Denkweise ist unter entfremdeten Bedingungen naheliegend, denn einerseits besteht nicht die unmittelbare Notwendigkeit, andererseits auch kaum die Möglichkeit im gesellschaftlichen Maßstab individuell Einfluß zu nehmen. So wird alles nach dem Schema unmittelbar-personaler Beziehungen gedacht (“der Politiker ist schuld” etc.), obwohl sich die Gesellschaft gerade nicht über das Wollen von Personen, sondern über den abstrakten Mechanismus der maßlosen Wertvermehrung reguliert. Hieraus haben linke Bewegungen den Schluss gezogen, dass die Totalität des amoklaufenden Werts durch eine kontrollierte Totalität einer umfassenden gesellschaftlichen Planung abgelöst werden müsse. Wie bekannt, sind alle Versuche mit gesellschaftlicher Gesamtplanung gescheitert. Auch eine Weltregierung könnte dieses Problem nicht lösen. Diese praktische Erfahrung ist auch theoretisch nachvollziehbar, denn die kommunikativen Aufwände, die notwendig wären, um die individuellen und die gesellschaftlichen Bedürfnisse miteinander zu vermitteln, also die Vergesellschaftung praktisch zu leisten, sind schier unendlich hoch. Selbst Räte oder andere Gremien können das Problem der immer vorhandenen Interessenkonflikte nicht stellvertretend aufheben. Auch für den Einzelnen ist die Notwendigkeit, die eigenen Interessen mit unendlich vielen anderen Interessen zu vermitteln, eine völlige Überforderung.
Eine neue Vergesellschaftungsform muss daher den gleichen individuell entlastenden Effekt haben, wie die sich selbst organisierende Wertmaschine - nur, dass sie ohne Wert funktioniert! Sie muss gesamtgesellschaftlich stabil und verlässlich funktionieren, ohne jedoch als ignorante, gleichgültige und von den Menschen abstrahierte "Maschine" über die Interessen von Menschen hinwegzugehen wie bei der abstrakten Vergesellschaftung über den Wert. Gesucht ist also ein sich selbstorganisierender “Mechanismus”, der einerseits die Vergesellschaftung quasi “automatisch” konstituiert, andererseits aber die abstrakte Vergesellschaftung durch eine personal-konkrete Form ablöst.
Das hört sich wie ein Widerspruch an, ist es aber nicht! Man muss sich nur von der Vorstellung verabschieden, die Gesellschaft müsse planvoll von irgendeiner Art zentraler Instanz gelenkt werden. Diese Vorstellung enthält immer das Konzept eines Innen-Außen: Die PlanerInnen - ob Räte, Behörde, DiktatorInnen - stehen gleichsam außerhalb der Gesellschaft und planen diese. Die PlanerInnen planen für uns, oder noch deutlicher: sie planen uns. Das steht unter erheblichen Problemen, denn der Mensch ist eigentlich nicht planbar und vorhersehbar. Daher bedarf es großer Anstrengungen, Menschen zu kontrollieren, sie über Zurichtung und Diskurse zur Aufgabe eigener Ideen bereit zu machen und ihnen die Möglichkeiten für Alternativen zu entziehen - sowohl die Fähigkeiten zu anderem Handeln wie auch die materiellen Voraussetzungen in Form von Produktionsmitteln.
Die Alternative zu stellvertretenden Planung ist die Selbstplanung der Gesellschaft. Sie setzt strukturell eine Annäherung allgemeiner Interessen voraus, also den Vorteil der Kooperation gegenüber der Konkurrenz. Das ist im Kapitalismus unmöglich. Der Kapitalismus kennt überhaupt nur Partialinteressen, die jeweils nur gegen andere Partialinteressen durchsetzbar sind. Eine gelungene Vermittlung der Partialinteressen trägt dann die Namen “Demokratie” (als Entscheidungsfindungsmodell) und "Rechtsstaat" (als Regelwerk) - das kann es aber nicht sein.
Kann es eine Annäherung allgemeiner Interessen geben? Sind die individuellen Interessen und Wünsche nicht sehr verschieden, will nicht eigentlich jeder doch irgendwie etwas anderes? Ja, und das ist auch gut so! Unter unseren Bedingungen schließt diese Frage jedoch immer mit ein, diese “Wünsche”, dieses “andere Wollen” muss auch gegen andere - ob individuell oder im Zusammenschluss mit anderen, die die gleichen Partialinteressen haben - durchgesetzt werden. Wir hatten aber vorher dargestellt, dass die Selbstentfaltung des Menschen nur funktioniert, wenn sich alle entfalten können und dies auch real tun. Unter Bedingungen der Selbstentfaltung habe ich ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen Menschen. Etwas vereinfacht gesprochen steht der Win-Loose-Situation im Kapitalismus eine Win-Win-Situation in der zukünftigen Gesellschaft gegenüber.
Schön und gut, aber wie kommen denn nun die Brötchen auf den Tisch? Was ersetzt denn nun den Wert als selbstorganisierenden Mechanismus der Vergesellschaftung? Die Selbstentfaltung des Menschen ersetzt die abstrakte Dauerschleife durch eine personal-konkrete Vermittlung der Menschen! Selbstentfaltung bedeutet ja nicht Abschaffung der Arbeitsteilung. Ich beziehe mich weiterhin nicht auf die “gesamte” Gesellschaft, sondern weiterhin nur auf den Ausschnitt der Gesellschaft, der mir zugekehrt ist. Wie groß dieser Ausschnitt ist, entscheide ich je nach Lage. Entfalten sich die Menschen um mich herum fröhlich vor sich hin - und ich mittendrin -, dann besteht kein Grund, den gesellschaftlichen Ausschnitt zu vergrößern. Gibt es aber Einschränkungen meiner Selbstentfaltung, die nicht meinem unmittelbaren Handeln zugänglich sind, dann werde ich den Blick weiten, um die Ursachen der gemeinsamen Einschränkungen aus der Welt zu schaffen. Da mein Leben nicht mehr auf die Heranschaffung des Abstraktums “Geld” ausgerichtet ist, bekommen die Einschränkungen für mich eine völlig neue konkrete Bedeutung: Sie schmälern in direkter Weise meinen Lebensgenuss. Da diese Einschränkungen meiner Selbstentfaltung auch für alle anderen beschränkend sind, liegt es unmittelbar nahe, die Einschränkungen im gemeinsamen Interesse zu beseitigen. Im eigenen und gleichzeitig allgemeinen Interesse werden wir uns die personalen und konkreten Vermittlungsformen suchen, die notwendig sind, um Einschränkungen unseres Lebensgenusses aus der Welt zu schaffen. Allgemeiner formuliert: Jedes menschliche Bedürfnis findet auch seine Realisierung - und ist das Bedürfnis mein einzig alleiniges auf der Welt, dann realisiere ich es eben selbst. Da das aber bei den Brötchen auf dem Tisch nicht der Fall sein dürfte, wird es für das Problem “Brötchen auf dem Tisch” eine allgemeine Lösung geben.
Mit der Selbstentfaltung des Menschen kann es eine andere, individuell entlastende Form der Vergesellschaftung geben. Der Einzelne entfaltet sich, ihm nützt dabei die Selbstentfaltung der vielen Anderen, während die eigene Selbstentfaltung die Möglichkeiten der Anderen verbessert. Die eigene Produktivität trägt immer automatisch zum Gesamten bei, weil die Interessen nicht mehr zerlegt und voneinander getrennt werden, wie es der Fall war, als alles nur durch die Brille des Wertes betrachtet und dann gegeneinander gerechnet wurde. Jetzt ist der Blickwinkel ein anderer: Es geht um ein besseres Leben, um die Entfaltung der Menschen - und hier stehen die Fähigkeit oder das Geschaffene des Einen nicht gegen den Anderen, sondern ergänzen oder fördern sich sogar gegenseitig.
Im Original: Der Text der ersten Auflage
Aus Gruppe Gegenbilder (1. Auflage 2000): "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen", SeitenHieb-Verlag in Reiskirchen (S. 34 ff)
Doch gibt es überhaupt eine Alternative außerhalb der “schönen Maschine”? Wir haben bereits dargestellt, dass der nächste logische und praktische Schritt in der Produktivkraftentwicklung die Entfaltung des Menschen an-und-für-sich ist. Was heißt das aber für die Form der Vergesellschaftung?
Die unbeschränkte Selbstentfaltung des Menschen ist unter den Bedingungen der subjektlosen Selbstverwertung von Wert als Kern der “schönen Maschine” undenkbar. Selbstentfaltung bedeutet ja gerade, dass sich das Subjekt selbst entfaltet, und zwar jedes Subjekt und das unbegrenzt. Dennoch gibt es auch unter entfremdeten Bedingungen der abstrakten Arbeit neue Möglichkeiten, denn neben den Effekten der Entsolidarisierung gibt es gleichzeitig auch einen größeren Handlungsspielraum, ein Mehr an Entfaltungsmöglichkeiten und Verantwortung als zu alten Kommandozeiten. In der unmittelbaren Arbeitstätigkeit sind die Handlungsrahmen weiter gesteckt als vorher: “Es gilt das Motto: ‘Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein’” (Glißmann 1999, 151).
Innerhalb dieses vergrößerten Handlungsrahmens kann ich in größerem Maße als früher meine individuellen Potenzen entfalten, weil ich selbst an meiner eigenen Entfaltung interessiert bin, weil es Spaß macht und meiner Persönlichkeit entspricht. Die Bedingungen, dass ich mich selbst als Hauptproduktivkraft entfalte, sind im Vergleich zu meinen Eltern und Großeltern schon besser geworden, gleichwohl geschieht dieses Mehr an Entfaltung immer noch unter entfremdeten Bedingungen. Die Entfaltung ist nur möglich, solange ihre Ergebnisse verwertbar sind, solange ich profitabel bin. Sogar die Love-Parade wird damit zum profitablen Geschäft. In meiner Person spiegelt sich damit der unter unseren Bedingungen nicht auflösbare Widerspruch von Selbstentfaltung und Wertverwertung, von Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch an-und-für-sich und entfremdeter Produktivkraftentwicklung.
Wie sieht die Aufhebung des Widerspruches von Selbstentfaltung und Verwertungszwang in Überschreitung unserer Bedingungen aus? Es geht um die Umkehrung des Satzes von Marx, wonach die “gesellschaftliche Bewegung” durch eine “Bewegung von Sachen” kontrolliert wird, “statt sie zu kontrollieren”. Marx hätte das so sagen können:
“Die gesellschaftliche Bewegung wird von den Menschen bewußt bestimmt. Die Bewegung von Sachen wird von den Menschen kontrolliert und dient einzig dem Zweck, ein befriedigendes Leben zu gewinnen.” (Marx, nie aufgeschrieben).
Die Alternative zur abstrakten subjektlosen Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion durch den Wert (als Bewegung von Sachen) ist die konkrete Selbstorganisation durch die handelnden Menschen selbst - das ist so einfach wie logisch! Oder anders formuliert: Die abstrakte Vergesellschaftung über den Wert wird ersetzt durch eine konkrete Vergesellschaftung der handelnden Menschen selbst. Wir wollen daher auch diese zukünftige Form personal-konkrete Produktivkraftentwicklung nennen. Bedeutet das ein Zurück zu den alten Zeiten der “Natur-Epoche”? Nein, so wie die “Mittel-Epoche” die “Natur-Epoche” aufgehoben hat, so wird die Epoche der menschlichen Selbstentfaltung alle vorherigen Entwicklungen aufheben. “Aufheben” bedeutet dabei sowohl Ablösen als auch Bewahren und in einem völlig neuen Kontext fortführen. Es ist klar, das Menschen natürlich weiter Nahrungsmittel und industrielle Güter produzieren werden, doch es ist ebenso klar, dass sie dies nicht in der gleichen Weise wie bisher tun werden - weil die bisherige ignorante kapitalistische Produktionsweise die Reproduktionsgrundlagen der Menschheit systematisch zerstört, woran in einer freien Gesellschaft niemand ein Interesse hat.
An dieser Stelle kommt oft der Einwand: “Das ist ja utopisch!” - eine verständliche Reaktion. Die herrschende abstrakte Vergesellschaftungsform über den Wert hat alle Lebensbereiche so weit durchdrungen, dass ein Leben außerhalb dessen schier undenkbar erscheint. Wer kann sich schon ein Leben ohne Geld, das über die Lebensmöglichkeiten von Menschen bestimmt, vorstellen? Ein Leben mit “einfach nehmen” statt “kaufen”? Es ist nicht einfach, das zu denken, darum versuchen wir das “Undenkbare” noch weiter zu skizzieren - in Kapitel 2.3. Hier geht es uns zunächst einmal darum, zu begründen, dass die Wertvergesellschaftung nicht das Ende der Geschichte darstellt, sondern dass eine personale Vergesellschaftung historisch-logisch die entfremdete Form aufheben kann.
Die Tatsache, dass es eine abstrakte Instanz, den Wert, gibt, über den sich die gesellschaftlichen Beziehungen regulieren, hat auch eine positive Funktion: Sie entlastet die Gesellschaftsmitglieder, jeden Einzelnen individuell von der Notwendigkeit, “die ganze Gesellschaft” zu denken. Ich muss mich nur mit meinem unmittelbaren Umfeld beschäftigen, alles andere regelt sich schon. So paradox es klingt: Die personalisierende Denkweise ist unter entfremdeten Bedingungen naheliegend, denn einerseits besteht nicht die unmittelbare Notwendigkeit, andererseits auch kaum die Möglichkeit im gesellschaftlichen Maßstab individuell Einfluß zu nehmen. So wird alles nach dem Schema unmittelbar-personaler Beziehungen gedacht (“der Politiker ist schuld” etc.), obwohl sich die Gesellschaft gerade nicht über das Wollen von Personen, sondern über den abstrakten Mechanismus der maßlosen Wertvermehrung reguliert. Hieraus haben linke Bewegungen den Schluss gezogen, dass die Totalität des amoklaufenden Werts durch eine kontrollierte Totalität einer umfassenden gesellschaftlichen Planung abgelöst werden müsse. Wie bekannt, sind alle Versuche mit gesellschaftlicher Gesamtplanung gescheitert. Auch eine Weltregierung könnte dieses Problem nicht lösen. Diese praktische Erfahrung ist auch theoretisch nachvollziehbar, denn die kommunikativen Aufwände, die notwendig wären, um die individuellen und die gesellschaftlichen Bedürfnisse miteinander zu vermitteln, also die Vergesellschaftung praktisch zu leisten, sind schier unendlich hoch. Selbst Räte oder andere Gremien können das Problem der immer vorhandenen Interessenkonflikte nicht stellvertretend aufheben. Auch für den Einzelnen ist die Notwendigkeit, die eigenen Interessen mit unendlich vielen anderen Interessen zu vermitteln, eine völlige Überforderung.
Eine neue Vergesellschaftungsform kann nur den gleichen individuell entlastenden Effekt haben, wie die sich selbst organisierende Wertmaschine - nur, dass sie ohne Wert funktioniert! Sie muss gesamtgesellschaftlich stabil und verläßlich funktionieren, ohne jedoch ignorant und gleichgültig über die Interessen von Menschen hinwegzugehen wie bei der abstrakten Vergesellschaftung über den Wert. Gesucht ist also ein sich selbstorganisierender “Mechanismus”, der einerseits die Vergesellschaftung quasi “automatisch” konstituiert, andererseits aber die abstrakte Vergesellschaftung durch eine personal-konkrete Form ablöst. Das hört sich wie ein Widerspruch an, ist es aber nicht! Man muss sich nur von der Vorstellung verabschieden, die Gesellschaft müsse planvoll von irgendeiner Art zentraler Instanz gelenkt werden. Diese Vorstellung enthält immer das Konzept eines Innen-Außen: Die Planer - ob Räte, Behörde, Diktatoren - stehen gleichsam außerhalb der Gesellschaft und planen diese. Die Planer planen für uns, oder noch deutlicher: sie planen uns. Das geht aber ganz grundsätzlich nicht, denn kein Mensch ist planbar und vorhersehbar. Die Alternative zu stellvertretenden Planung kann nur die Selbstplanung der Gesellschaft sein.
Eine Selbstplanung der Gesellschaft setzt strukturell eine Annäherung allgemeiner Interessen voraus. Das ist im Kapitalismus unmöglich. Der Kapitalismus kennt überhaupt nur Partialinteressen, die jeweils nur gegen andere Partialinteressen durchsetzbar sind. Eine gelungene Vermittlung der Partialinteressen trägt dann den Namen “Demokratie” - das kann es aber nicht sein. Kann es aber eine Annäherung allgemeiner Interessen geben? Sind die individuellen Interessen und Wünsche nicht sehr verschieden, will nicht eigentlich jeder doch irgendwie etwas anderes? Ja, und das ist auch gut so! Unter unseren Bedingungen schließt diese Frage jedoch immer mit ein, diese “Wünsche”, dieses “andere Wollen” muss auch gegen andere - ob individuell oder im Zusammenschluss mit anderen, die die gleichen Partialinteressen haben - durchgesetzt werden. Wir hatten aber vorher dargestellt, dass die Selbstentfaltung des Menschen nur funktioniert, wenn sich alle entfalten können und dies auch real tun. Unter Bedingungen der Selbstentfaltung habe ich ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen Menschen. Etwas vereinfacht gesprochen steht der Win-Loose-Situation im Kapitalismus eine Win-Win-Situation in der zukünftigen Gesellschaft gegenüber.
Schön und gut, aber wie kommen denn nun die Brötchen auf den Tisch? Was ersetzt denn nun den Wert als selbstorganisierenden Mechanismus der Vergesellschaftung? Aber das ist es doch gerade: Die Selbstentfaltung des Menschen ersetzt diesen abstrakten Mechanismus durch eine personal-konkrete Vermittlung der Menschen! Selbstentfaltung bedeutet ja nicht Abschaffung der Arbeitsteilung. Ich beziehe mich weiterhin nicht auf die “gesamte” Gesellschaft, sondern weiterhin nur auf den Ausschnitt der Gesellschaft, der mir zugekehrt ist. Wie groß dieser Ausschnitt ist, entscheide ich je nach Lage. Entfalten sich die Menschen um mich herum fröhlich vor sich hin - und ich mittendrin -, dann besteht kein Grund, den gesellschaftlichen Ausschnitt zu vergrößern. Gibt es aber Einschränkungen meiner Selbstentfaltung, die nicht meinem unmittelbaren Handeln zugänglich sind, dann werde ich den Blick weiten, um die Ursachen der gemeinsamen Einschränkungen aus der Welt zu schaffen. Da mein Leben nicht mehr auf die Heranschaffung des Abstraktums “Geld” ausgerichtet ist, bekommen die Einschränkungen für mich eine völlig neue konkrete Bedeutung: Sie schmälern in direkter Weise meinen Lebensgenuss. Da diese Einschränkungen meiner Selbstentfaltung auch für alle anderen beschränkend sind, liegt es unmittelbar nahe, die Einschränkungen im gemeinsamen Interesse zu beseitigen. Im eigenen und gleichzeitig allgemeinen Interesse werden wir uns die personalen und konkreten Vermittlungsformen suchen, die notwendig sind, um Einschränkungen unseres Lebensgenusses aus der Welt zu schaffen. Allgemeiner formuliert: Jedes menschliche Bedürfnis findet auch seine Realisierung - und ist das Bedürfnis mein einzig alleiniges auf der Welt, dann realisiere ich es eben selbst. Da das aber bei den Brötchen auf dem Tisch nicht der Fall sein dürfte, wird es für das Problem “Brötchen auf dem Tisch” eine allgemeine Lösung geben.
Mit der Selbstentfaltung des Menschen kann es eine andere, individuell entlastende Form der Vergesellschaftung geben. Wenn man sich per Fingerschnipp in die neue Gesellschaft versetzen könnte, ist diese Utopie schon fast vorstellbar. Aber wie kommt man dahin, wo doch die Menschen so durchdrungen sind von Verwertungszwang und Konkurrenzkampf?
Diese Verhältnisse können sich einstellen, wenn sich die Bedingungen so verändern, wie das bereits in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurde. Ein genauerer Text zum herrschaftsfreiem Wirtschaften findet sich im Buch "Autonomie & Kooperation" ab Seite 85 (Download als .rtf oder als .pdf).
- Kritik der Warengesellschaft (Lothar Galow-Bergemann)