Demorecht

WAS IST ANARCHIE? BEGRIFF UND WIRKLICHKEIT ZWISCHEN AUFSTAND & LEBENSGEFÜHL

Definitionen


1. Definitionen
2. Anarchie - der Begriff für alles, auch völlig Verwirrtes
3. Was bleibt an zentralen Definitionspunkten?
4. Varianten des Anarchismus
5. Links und Lesestoff

Ein Text im Buch "Anarchie. Träume, Kampf und Krampf im deutschen Anarchismus" (Gliederung)

Das ist Anarchie - von David Edelstadt
Eine Welt in der keiner regieren soll,
über die Arbeit und Mühe eines anderen,
Frei wird sein jedes Herz und Gehirn,
Das ist Anarchie
Eine Welt in der Freiheit jeden beglückt,
den Schwachen den Starken „ihn“ und „sie“
wo „deins“ und „meins“ keinen unterdrücken wird
Das ist Anarchie

Was nun ist Anarchie eigentlich?
Ganz einfach ist die Frage nicht zu beantworten - aber das gilt für alle anderen Modelle der Gesellschaftsgestaltung auch. Schließlich sind die hochkomplex und schwer in einem Wort zu fassen. Zumal kein Begriff eindeutig sein kann. Denn Begriffe sind Denkkonzepte, die sich Menschen im Kopf bilden, um Wahrnehmungen und Empfindungen einsortieren zu können in ein Weltbild. Ohne ständiges Zuordnen würde im Kopf Chaos herrschen. Millionen von Sinneseindrücke würden nebeneinander existieren und kaum Zusammenhänge erkennbar sein. Begriffsbildung ist eine Form der Strukturierung von Denken. Es macht möglich, alles Wahrgenommene einzuordnen und so auch in Erinnerung zu behalten, weil es in Beziehung tritt zu bereits Bekanntem. Allerdings entsteht so das Problem, dass alle neuen Eindrücke vom vorhandenen Denken geprägt werden. Daher ist Denken immer gerichtet, es gibt weder Objektivität noch Wahrheit, auch nicht zur Anarchie. Der Begriff ist zudem eines der typischen "Containerworte", also ein Begriff, in dem mensch fast nach Belieben alles hineinkippen kann.

Es geht schon ganz vorne los mit den Unklarheiten. Die Einen sagen, der Begriff Anarchie leitet sich aus dem Griechischen (anarchia = Herrschaftslosigkeit, manchmal mit Führerlosigkeit übersetzt) ab und bedeutet deshalb ursprünglich die Abwesenheit von Herrschaft durch Einzelne ("Führer"). Andereübersetzen "anarchia" mit Herrschafts- oder Gesetzlosigkeit. Das ist zwar nicht völlig unterschiedlich, aber auch nicht das Gleiche - gibt es doch viele Hierarchien, die keine Einzelperson an der Spitze aufweisen. Im heutigen Gebrauch des Wortes wird die "Führerlosigkeit" in der Regel von der Einzelperson abstrahiert, d.h. im zweiten Sinne ausgelegt. Die klassischen Anarchisten in der Tradition von Bakunin, Kropotkin und Proudhon verstanden vor allem institutionelle oder strukturelle Gewalt als Herrschaft. Anarchie, schlussfolgerten sie, wäre eine staaten- bzw. institutionenlose Gesellschaft, bei weitergehender Herrschaftsanalyse die Form der Vergesellschaftung ohne alle Hierarchien und Privilegien.
Im Detail kam und kommt es aber zu unterschiedlichen Definitionen und Sichtweisen. Weil alle Formen organisierter Herrschaft, wie wir sie kennen, keine zeitlosen Institutionen sind, sondern im Laufe der Geschichte kamen und gingen, vermuten viele AnarchistInnen, dass es neben und noch mehr vor dem Beginn der Dominanz moderner Staaten tatsächliche Anarchie gegeben haben könnte. Auch über manche der heute lebenden Naturvölker wird behauptet, dass dort zumindest von Herrschaft Einzelner keine Rede sein kann. Ein Beispiel sind die Mbuti. Sie sollen ohne Macht von Führern leben, mithin nach einer Definitionsmöglichkeit in einer Anarchie. Die Abwesenheit von Gesetzgebern und Gesetzen kennzeichnet ihr Leben zudem als 'gesetzlos'. Aber ohne Ordnung war ihr Leben deshalb mitnichten, woraus dann ein Meinungsstreit folgt, wieweit andere Hierarchien, Privilegien und versteckte Fremdsteuerung wirksam sind. Somit bleibt offen, ob es solche ursprünglichen Formen der Anarchie außerhalb der Zeiten und Territorien der Herrschaft gegeben hat bzw. gibt. Daneben existieren Experimente bewusst gewählter Formen der Anarchie innerhalb etablierter Herrschaftsräume.
Es gab historisch mehrere Versuche, anarchistische Strukturen, zumindest in Ansätzen, auch in größeren Gesellschaften umzusetzen, beispielsweise bei der Pariser Kommune 1871, in der Ukraine zwischen 1917 und 1922 durch die Machnotschina, zeitweilig und ansatzweise in den Räterepubliken von München 1919 und Schwarzenberg 1945 sowie während des spanischen Bürgerkriegs von 1936 bis 1939 in Katalonien und dessen Hauptstadt Barcelona durch die CNT. Alle diese Umsetzungsversuche (teil)anarchistischer Gesellschaftsorganisation scheiterten nicht nur an sich selbst, sondern relativ schnell durch gewaltsame Niederschlagung oder Übernahme von außen. Relativ lange konnten sich das anarchistische Modell der Machnotschina unter den Bedingungen des Russischen Bürgerkriegs sowie der Anarchosyndikalismus in Katalonien unter den Bedingungen des Spanischen Bürgerkriegs halten. KritikerInnen betrachten diese längerfristigeren Ausnahmen als Nischenmodelle, da die Gegner des Anarchismus zunächst vorrangig andere Feinde hatten, gegen die sie die AnarchistInnen zeitweilig als Verbündete nutzten, um sie hinterher eiskalt niederzumetzeln. In Russland waren diese Feinde die konterrevolutionären "Weißen Armeen", in Spanien die faschistischen Truppen Francos. Vielfach wird AnarchistInnen vorgeworfen, dass sie selbst "Macht" in bevorzugten, wenn auch bis dahin eher machtlosen Gruppen (Arbeiterräte, Soldatenräte, Gewerkschaften, Partisanenbewegungen) konzentrierten und so neue, einseitige Herrschaftsstrukturen unter Ausschluss anderer Bevölkerungsschichten erzeugten. Daraus folgt die Bewertung, dass es noch nie, weder aktuell noch historisch eine Gesellschaft ohne Herrschaftsstrukturen gegeben hat und die nostalgische Nabelschau vergeblicher Versuche in der Vergangenheit die notwendige und vorantreibende, aktuelle Debatte bremst.
Da der Anarchismus keine Staatsform darstellt, er im Gegenteil staatliche Herrschaft ablehnt, fällt es schwer, konkrete Theorien und Umsetzungsstrategien zur Überwindung gängiger Staatsstrukturen zu benennen. Die meisten Gegenmodelle abseits des Anarchismus hinterfragen den Staat als solches kaum oder gar nicht. Aufgrund der grundlegenden Kritik staatlicher (Herrschafts-)Strukturen kann es aber keinen "anarchistischen Staat" geben. Das gibt Zündstoff für die Kritik am Anarchismus, wenn die Frage gestellt wird, welche Mechanismen Gewaltenteilung, die Gewährleistung der Menschenrechte, eine Infrastruktur zur Versorgung der Menschen, staatlich garantierte Bildung und anderes im Anarchismus gewährleistet werden sollten - zumal dann, wenn die Umsetzung des Anarchismus sich auf größere Gesellschaften auswirken soll.
Von der Grundidee her sollten sich anarchistische Vorstellungen z.B. von kapitalistischen, demokratischen oder marxistischen Vorstellungen dadurch unterscheiden, dass sie keine Privilegien oder privilegierten Klassen schaffen, also niemanden von der gleichberechtigten Beteiligung an der Gesellschaft ausschliessen wollen. Es soll weder eine vorübergehende Übernahme der Staatsgewalt noch eine Diktatur des Proletariats geben. Jegliche Machtkonzentration einzelner Gruppen wird abgelehnt und soll durch geeignete Organisierungsstrukturen wie das anarchistische Rätemodell verhindert werden. Räte sollten in allen Bevölkerungsschichten entstehen, wobei auch dieser Vorschlag einige Ausblendungen z.B. informeller Macht beinhaltet. Aus dem egalitären Anspruch folgt jedoch nicht bei allen der Verzicht auf zugespitzte Kämpfe gegen diejenigen, die real (nach Ansicht der Anarchisten illegitim) konzentrierte Macht innehaben und sich durch AnarchistInnen daher bedroht sehen.
Obgleich Ideen des Anarchismus Impulse für das Herausbilden von Demokratien und Formen des Arbeitskampfes gegeben haben, besitzt der Anarchismus in der Gegenwart kaum Unterstützung in der Bevölkerung. Stattdessen wird er oftmals fälschlich mit einem Zustand des "Chaos" assoziiert. Vorgeworfen wird dem Anarchismus ein Teil seiner Geschichte, bei dem gewaltsame Anschläge verübt wurden. Heutzutage stehen auch den AnarchistInnen nahestehende Gruppierungen wie die sogenannten Autonomen seitens der Gesellschaft in der Kritik wegen ihres teilweise gegnerischen Verhältnisses zum bürgerlichen Recht und dem Gewaltmonopol des Staates. Diskussionen um den Anarchismus drehen sich auch häufig um die Frage, ob es eine Natur-gegebene (früher Gott-gegebene) Ordnung der Gesellschaft im Sinne einer Hierarchie gibt, die bereits im Wesen des Menschen angelegt sei. Dieser Konflikt spiegelt sich auch in der Wissenschaft, die sich darüber nicht einig ist, aber darauf verweist, dass die Mehrzahl der bisherigen Gesellschaftsmodelle hierarchisch aufgebaut waren. Gleichzeitig aber zeigt sie, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse als Zurichtungen in Menschen festsetzen, d.h. es auch keine große Überraschung ist, dass angesichts der Dominanz herrschaftsförmiger Kulturen die Mehrzahl der Menschen selbige akzeptiert und reproduziert.

Im Original: Der Blick ins Lexikon
Aus Schmidt, Manfred G. (1995): "Wörterbuch zur Politik", Kröner Verlag in Stuttgart
Anarchie (von griech. anarchia = Herrschaftslosigkeit, Gesetzlosigkeit). Mehrdeutige und mehrwertige Bezeichnung für herrschafts- oder gesetzlose Ordnungen.
1) Für Anhänger des -Anarchismus ist A. eine positivzustimmend bewertete Vorstellung einer herrschaftsfreien Ordnung eines Gemeinwesens, in der die Kooperation und die -Koordination der Tätigkeiten der Gesellschaftsmitglieder ohne Dazwischentreten staatlicher oder sonstiger gesetzlicher Zwangsordnung erfolgen.
2) Im allgemeineren Sinne ist A. die Bezeichnung für den Zustand einer Ordnung, die durch das Fehlen autoritativer Institutionen oder Normen oberhalb der Ebene jeweils selbständiger Einheiten gekennzeichnet ist, wie z.B. die Auffassung von der anarchischen Struktur der internationalen Beziehungen in der sog. Realistischen Schule der Forschung zur Internationalen Politik.
3) Im hiermit verwandten Sinne ist A. die kritisch-abwertende Bezeichnung für eine Gesellschaftsordnung, die durch gesetzloses (im Sinne von "gegen Gesetz oder Moral verstoßendes") Tun und Lassen einzelner oder aller charakterisiert ist.
Anarchismus, eine zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandene politische Bewegung und Weltanschauung, deren Ziel die Herstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft im Sinne einer Gesellschaftsordnung ohne Ausbeutung, Staat, Militär und Justiz ist, in der die Gesellschaftsmitglieder frei, gleich und brüderlich nach jederzeit kündbarer Vereinbarung in überschaubaren basisdemokratischen Assoziationen zusammenleben. Man unterscheidet verschiedene Formen des A.:
1) die extrem individualistisch-libertäre Variante mit dem Leitgedanken der Maximierung individueller Freiheit und Autonomie (z. B. Godwin, 1756-1836),
2) den solidarischen A. mit der Leitidee gegenseitiger Hilfe (z. B. Proudhon, 1809-65),
3) den kollektiv-sozietären A., der insb. für Assoziationen der Arbeitenden auf der Basis von Kollektiveigentum eintritt (z. B. Bakunin, 1814-76),
4) den Anarcho-Kommunismus mit der Leitvorstellung, daß jedem nach seinen Bedürfnissen 711 geben sei (z. B. Fürst Kropotkin, 1842-1921), und 5) den insb. in Frankreich und Spanien verwurzelten

Wikipedia zu Anarchie
Wenn der Begriff in größeren Zusammenhängen verwendet wird, bezeichnet Anarchie auch eine auf sozialen und philosophischen Ideen basierende Gesellschaftsordnung. Anarchie bedeutet, dass jeder Mensch sich ohne unterdrückende Autorität und in freier Assoziation mit anderen Menschen entfalten kann. Freiwillig angenommene Autoritäten, wie etwa Mentoren, Trainer oder Berater, sind mit der Idee einer herrschaftsfreien Ordnung kompatibel. Ebenso können Regeln in Form von Sozialen Normen existieren. Die Anarchie negiert indes jegliche Autorität, sei es mit oder ohne Gewaltenteilung: Es existieren weder eine Exekutive (ausführende), eine Judikative (richterliche) noch eine Legislative (gesetzgebende) Gewalt, somit also kein Staat. Vielmehr wollen die Anarchisten die Gesellschaft selbst regeln, etwa über Räte, freie Übereinkunft oder rein funktionale Entscheidungen.
Eine solche Organisationsstruktur ist per Definition hierarchie- und gewaltfrei und sollte nicht mit einer herkömmlichen Administration verwechselt werden. Eine anarchistische Gesellschaft im Sinne des Anarchismus ist eine Gesellschaft, in der jeder Mensch selbst beziehungsweise in Kooperation mit anderen für die eigenen Lebensumstände Verantwortung übernimmt. Es gibt keinerlei lenkende Zentralgewalt. Sanktionen gehen nicht von einer Führungsschicht aus, sondern sind nur möglich, wenn vorher vereinbarte Regeln verletzt wurde - mit den Worten von Pierre Joseph Proudhon: "Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft." ...
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird mit dem Begriff Anarchie ein durch die Abwesenheit von Staat und institutioneller Gewalt bedingter Zustand gesellschaftlicher Unordnung und Gesetzlosigkeit beschrieben. Die treffende Bezeichnung für diesen Zustand ist jedoch Anomie.

Zu Anarchie auf Anarchopedia
Das Wort Anarchie kommt aus dem Griechischen und leitet sich aus dem Präfix an, was so viel wie nicht heißt, und dem Wort für Herrscher (archos) ab. Anarchie heißt also Nichtherrschaft oder Herrscherlosigkeit, es ist der herrschaftslose Zustand, der den Prinzipien des Anarchismus entspricht. In ihr können sich die Menschen frei von Gesetzen, Grenzen und Normen bewegen und sich so frei und ohne Zwang entwickeln.
Anarchie beschreibt den Zustand, nicht das politische System, wie die -ismen (Kommunismus, Anarchismus, Kapitalismus). Wie aus dem Griechischen (siehe oben) abzuleiten, handelt es sich bei der Anarchie um einen Zustand absoluter Herrschaftslosigkeit und um nichts anderes. Die heutigen Assoziationen mit Gewalt, Chaos, etc., gehen schlichtweg am eigentlichen Begriff vorbei. Diese Empörten würden z.B. ihre geliebte Demokratie nie mit Krieg assoziieren, doch folgt er ihr so oft auf den Fuß. Viele Male wird und wurde der Begriff Anarchismus von Pseudoanarchisten missbraucht.


Von der Anarchie leiten sich weitere Begriffe ab: Der Begriff der Anarchie bezeichnet die Idee einer herrschaftsfreien und gewaltlosen Gesellschaft, in der Menschen ohne politischen Zwang (Macht) und Herrschaft gleichberechtigt und ohne Standesunterschiede miteinander leben und sich so frei entfalten können. Ein Mensch, der nach diesen Idealen lebt oder einer, der eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstrebt, wird als AnarchistIn (bzw. Anarcho, Anarcha oder, geschlechtsneutral, Anarch@) bezeichnet. Die daraus resultierenden politischen Denkansätze, die die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit des Staates und des staatlichen Gewaltmonopols bestreiten, bezeichnet man als Anarchistische Theorien.
Der Anarchismus bezeichnet die Theorie der Anarchie, also jene Weltanschauung, die davon ausgeht, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen (Chefs, Führer, Autoritäten, staatliche Herrschaft, jede Form von Hierarchie) nicht gerechtfertigt, unnötig, repressiv und gewaltsam ist, eine Unterdrückung darstellt, und somit aufgehoben werden muss. Im Mittelpunkt stehen Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstverwaltung der Individuen, die Ausübung von Zwang wird zurückgewiesen. (Dieser Abschnitt zur Definition von Anarchie entstand auf der Basis eines Textes im Internet, siehe dort auch: Anarchismus.)
Im Gegensatz zum umfassenden Theoriebegriff "Anarchismus" wird "anarchistisch" zurückhaltender benutzt und mehr schon Teilaspekte oder einzelne Einstellungen bzw. Handlungen. Wenn etwas "anarchistisch" ist, dann wird damit in der Regel nur ausgedrückt, dass es sich gegen Herrschaft wendet oder gezielt frei von Herrschaft gehalten werden soll. Bisweilen wird das Adjektiv "libertär" synonym für "anarchistisch" verwendet. Diese Terminologie ist jedoch unpräzise - libertär ist oft noch zurückhaltender als Teilwesenszug einer damit beschriebenen Sache, eines Verhältnisses oder einer Gesinnung gemeint.

Wer den heutigen Buchmarkt zu Anarchie betrachtet, wird einen erheblichen Anteil sehr alter Werke feststellen. Deutschsprachige, anarchistische Verlage bringen immer wieder Neudrucke alter Texte heraus, die mitunter 100 und mehr Jahre auf dem Buckel haben. Offenbar war die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft, mitunter gleichgesetzt mit der Idee klassenloser Gesellschaft (wenn sich hier auch schnell harte Ideologiekämpfe mit Marx und den von seinen Ideen inspirierten MarxistInnen ergaben), schon aus der Aufklärung heraus schnell als Idee formuliert - was selbst Immanuel Kant höchstpersönlich zeigte, als er Anarchie in seiner Übersicht, wie Freiheit und Gesetz mit Gewalt verbunden sein können, einen Königsplatz einräumte.

Aus Kant, Immanuel (1798): AA VII, "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (S. 330 f., im Internet)
Freiheit und Gesetz ... sind die zwei Angeln, um welche sich die bürgerliche Gesetzgebung dreht. - Aber damit das letztere auch von Wirkung und nicht leere Anpreisung sei: so muß ein Mittleres hinzu kommen, nämlich Gewalt, welche, mit jenen verbunden, diesen Prinzipien Erfolg verschafft. - Nun kann man sich aber viererlei Kombinationen der letzteren mit den beiden ersteren denken:
A. Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (Anarchie).
B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotismus).
C. Gewalt ohne Freiheit und Gesetz (Barbarei).
D. Gewalt mit Freiheit und Gesetz (Republik).


Die Hochphase anarchistischer Betätigung und Schreiberei lag hierzulande dann um die vorletzte Jahrhundertwende. Von dort stammen etliche Definitionen und Beschreibungen dessen, was Anarchie ist, wäre oder sein soll.

Im Original: Klassiker
Definition in Alexander Berkmann, "ABC des Anarchismus" (1929)
Anarchismus heißt, daß Sie frei sein werden; daß niemand Sie versklaven, Sie herumkommandieren, Sie berauben oder mißbrauchen wird. Das bedeutet, daß Sie die Freiheit haben werden, das zu tun, was Sie wollen, und daß Sie nicht gezwungen werden, etwas gegen ihren Willen zu tun. Das bedeutet, daß Sie die Möglichkeit haben, ohne Einmischung anderer so zu leben, wie Sie es wünschen. Das bedeutet, daß Ihr Nachbar die gleiche Freiheit hat wie Sie, daß jeder dieselben Rechte und Freiheiten besitzen wird. Das bedeutet, daß alle Menschen Brüder sind und wie Brüder in Frieden und Harmonie lebe werden. Das heißt, daß daß es keine Kriege geben wird und keine Gewaltanwendung einer Gruppe gegen die andere, kein Monopol, keine Armut, keine Unterdrückung und kein Ausnutzen des Mitmenschen.
Kurz gesagt: Anarchismus heißt die Gesellschaftsform, in der alle Männer und Frauen frei sind und in der alle die Vorteile eines geregelten und sinnvollen Lebens genießen.

Peter Kropotkin: "Anarchismus" (aus der Encyclopaedia Britannica von 1910)
Anarchismus (von Griechisch an und archos, Gegenteil von Herrschaft), Bezeichnung eines Prinzips oder einer Theorie des Lebens und Verhaltens, dem zufolge die Gesellschaft ohne Regierung gedacht wird. Harmonie wird in solch einer Gesellschaft nicht durch Unterwerfung unter das Gesetz oder durch Gehorsam vor irgendeiner Autorität erreicht, sondern durch freie Vereinbarungen, die zwischen verschiedenen Gruppen getroffen werden. Diese Gruppen würden nach territorialen und beruflichen Unterteilungen frei eingesetzt, zum einen um Produktion und Verbrauch zu regeln, zum anderen um die Befriedigung der unendlichen Vielfalt von Bedürfnissen und Wünschen des zivilisierten Menschen zu sichern. In einer Gesellschaft, die nach diesen Prinzipien entwickelt wurde, würden die freiwilligen Vereinigungen (...) eine noch größere Ausdehnung annehmen, um so den Staat in allen seinen Funktionen zu ersetzen. Sie würden ein eng verknüpftes Netzwerk bilden, zusammeng Anarchismus (von Griechisch an und archos, Gegenteil von Herrschaft), Bezeichnung eines Prinzips oder einer Theorie des Lebens und Verhaltens, dem zufolge die Gesellschaft ohne Regierung gedacht wird. Harmonie wird in solch einer Gesellschaft nicht esetzt aus einer endlosen Vielzahl von Gruppen und Vereinigungen aller Größen und Grade.

Rudolf Rocker, "Anarchosyndicalism", Secker und Warburg 1938 (zitiert von Noam Chomsky, Quelle hier)
(Anarchismus ist ...) kein festes, in sich geschlossenes System darstellt, sondern eher einen bestimmten 'Trend in der Menschheitsgeschichte', welcher in Gegnerschaft zu der intellektuellen Bevormundung, durch kirchliche und administrative Einrichtungen nach freier und unbehinderter Entfaltung aller individuellen und gesellschaftlichen Kräfte im Dasein strebt.

Mühsam, Erich (1933): "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Nachdruck bei Syndikat A und im Internet (mehr Auszüge)
Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Anarchie, zu deutsch: ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, ohne Staat, bezeichnet somit den von den Anarchisten erstrebten Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, nämlich die Freiheit jedes einzelnen durch die allgemeine Freiheit. In dieser Zielsetzung, in nichts anderm, besteht die Verbundenheit aller Anarchisten untereinander, besteht die grundsätzliche Unterscheidung des Anarchismus von allen andern Gesellschaftslehren und Menschheitsbekenntnissen.
Wer die Freiheit der Persönlichkeit zur Forderung aller Menschengemeinschaft erhebt, und wer umgekehrt die Freiheit der Gesellschaft gleichsetzt mit der Freiheit aller in ihr zur Gemeinschaft verbundenen Menschen, hat das Recht, sich Anarchist zu nennen. Wer dagegen glaubt, die Menschen um der gesellschaftlichen Ordnung willen oder die Gesellschaft um der vermeintlichen Freiheit der Menschen willen unter von außen wirkenden Zwang stellen zu dürfen, hat keinen Anspruch, als Anarchist anerkannt zu werden. ...
(S. 7)
Die Verneinung der Macht in der gesellschaftlichen Organisation ist das maßgebliche Wesensmerkmal der Anarchie, oder, um dieser verneinenden Erklärung die bejahende Form zu geben: der Anarchismus kämpft anstatt für irgendeine Form der Macht für die gesellschaftlich organisierte Selbstverfügung und Selbstentschließung der Menschen. Unter Macht ist jede Inanspruchnahme oder Einräumung von Hoheitsbefugnissen zu verstehen, durch die die Menschen in regierende und regierte Gruppen getrennt werden. Hierbei spielt die Regierungsform nicht die geringste Rolle. Monarchie, Demokratie, Diktatur stellen als Staatsarten nur verschiedene Möglichkeiten im Verfahren der zentralistischen Menschenbeherrschung dar. Wenn die Demokratie sich darauf beruft, daß sie dem Volksganzen die Beteiligung an der öffentlichen Verwaltung mit gleichem Stimmrecht für alle gewährt, so ist daran zu erinnern, daß gleiches Stimmrecht nichts mit gleichem Recht zu tun hat und daß die Aussonderung von Abgeordneten eben die Beteiligung der Aussondernden an der Verwaltung verhindert und ihre Vertretung durch einander ablösende Machthaber bedeutet. ...
(S. 25)

Aus Schmück, Hajo (2003): "Anarchie" - Zur Geschichte eines Reiz- und Schlagwortes (Quelle)
Im Brockhaus'schen "Conversations-Lexikon" von 1814 findet sich noch ein anthropologisch orientierter Interpretationsansatz des Anarchiebegriffs, demzufolge Anarchie als "ein Volksverein ohne gemeinschaftliche Regierungsform" definiert wurde.

Aus dem Internet
Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, daß sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können. In diesem Sinne sind wir wirklich Anarchisten. (S. 69)

Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau
Aristoteles verwendet den Begriff "Anarchie" in der Bedeutung von "Zustand der Sklaven ohne Herrn" als Entartung der Demokratie. Auch in der (Staats-)Verfassungslehre behält "Anarchie" als eine der Despotie entgegengesetzte Entartung negative Bedeutung’. In der Theologie des Mittelalters kennzeichnet "Anarchie" hingegen das Höchste und Freieste, was der Mensch sich vorstellen kann; der Zustand, in dem sich Gott befindet, der keiner Gewalt unterworfen ist. In diesem Sinne nimmt auch Kant den Begriff zur Bezeichnung einer Verfassungsform auf, die den unvollkommenen Menschen nicht angemessen ist: Anarchie sei "Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt". ... (S. 24 f.)
"Anarchie ist ... eine Regierungsform oder Verfassung, in welcher das öffentliche und private Gewissen ... allein zur Erhaltung der Ordnung und Sicherstellung aller Freiheiten genügt, in welcher also das Autoritätsprinzip, die polizeilichen Einrichtungen, die Steuern usw. auf das einfachste beschränkt sind, in welcher ... die Zentralisation - durch föderative Einrichtungen und kommunale Gebäude ersetzt - verschwinden." (Proudhon, zitiert nach Souchy in Borries u. a. 1970, 11 f.) ...
(S. 28)

Ludwig Börne (ca. 1835)
Nicht darauf kommt es an, daß die Macht in dieser oder jener Hand sich befinde: die Macht selbst muß vermindert werden, in welcher Hand sie sich auch befinde. Aber noch kein Herrscher hat die Macht, die er besaß, und wenn er sie auch noch so edel gebrauchte, freiwillig schwächen lassen. Die Herrschaft kann nur beschränkt werden, wenn sie herrenlos – Freiheit geht nur aus Anarchie hervor. Von dieser Notwendigkeit der Revolution dürfen wir das Gesicht nicht abwenden, weil sie so traurig ist. Wir müssen als Männer der Gefahr fest ins Auge blicken und dürfen nicht zittern vor dem Messer des Wundarztes. Freiheit geht nur aus Anarchie hervor – das ist unsere Meinung, so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden.

Aus einem Flugblatt des „Anarchistischen Freibundes“, das über die Ermordung Kurt Wilckens am 22. Juni 1923 berichtet
Wir sagen euch nicht: Werdet Anarchisten! Wir überlassen es euerer eigenen Denkfähigkeit den Weg zur Freiheit zu suchen und zu finden. Anarchist sein heißt Mensch sein! Anarchie heißt: Herrschaftslosigkeit. Weder Herr noch Knecht Nicht Unordnung, Chaos, sondern größtmögliche Freiheit und natürliche Ordnung, wo jeder Mensch ein Eigener, ein Freier ist. Die Freiheit kann ihm von keiner Gesellschaft, von keinem andern Individuum beschränkt werden denn es steht jedem frei, außerhalb der Gesellschaft zu leben. und die Hilfe der anderen für sich nicht in Anspruch zu nehmen.
Die Gesellschaften aber werden freie Vereinigungen sein, die nur das Wohl aller ihrer Glieder als Lebenszweck betrachten. Fort mit dem Kapitalismus und seiner verpestenden Denkungsart, denn alle Menschen sind Brüder und keine gegenseitigen Ausbeutungsobjekte. Fort mit allen Parteien, sie fördern die Parteiung der Menschheit, d.h. die Zersplitterung, sie sabotieren dadurch den Freiheitskampf.
Der Kampf gegen die eigene Unselbständigkeit, gegen die veralteten Moralbegriffe, führt zum Krieg der Freiheitskämpfer aller Länder gegen ihre Ausbeuter. Die dann einsetzende soziale Revolution ist die Verkünderin der natürlichen Ordnung, der Anarchie.

Definitionen der Anarchie aus neuester Zeit betonen stärker die Beziehungen in Gesellschaften. Anarchie steht nicht mehr nur für die Abwesenheit staatlicher Gewalt oder anderer Formen von Hierarchie, sondern beschreibt eine egalitäre Form des Miteinanders. Das passt zu modernen Herrschaftsanalysen, die der diskursiven Fremdbestimmung, ökonomischen Zwängen und Formen der Vereinnahmung einen eigenständigen und bedeutenden Platz neben den formalen Hierarchien geben. Wer Herrschaftsfreiheit will, muss Antworten finden, wie diese denn aussehen kann. Sie ist mehr als die Abwesenheit von Apparaten und Institutionen.

Im Original: Aktuelle Definitionen
Aus Fuchs, Christian (2001): „Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus“, Selbstverlag (S. 209)
Dem Anarchismus geht es um die unmittelbare Entscheidungsfindung durch Betroffene unter Abwesenheit von Autorität, Herrschaft und Hierarchie. Die Abwesenheit solcher Strukturen, Verhältnisse und Prozesse kann als Annäherung an eine Symmetrisierung der Machtverhältnisse gesehen werden. Symmetrische Macht bedeutet, daß jedeR Betroffene dieselben Möglichkeiten und Ressourcen besitzt, entsprechende Entscheidungen im eigenen Sinn zu beeinflussen. Partizipatorische Basisdemokratie, alle Betroffenen entscheiden alles, das sie betrifft - so könnte ein Ideal des Anarchismus formuliert werden. Und dieses Ideal kommt der Vorstellung der Etablierung inklusiver sozialer Information durch Prozesse der sozialen Selbstorganisation sehr nahe.

Definition auf www.anarchismus.at
Kurzdefinition: EinE AnarchistIn glaubt an eine freie Gesellschaft gleichberechtigter Menschen ohne Herrschaft. Er/sie tritt für die Beseitigung jeder Herrschaft ein und bekämpft deshalb Staat, Kirche, Polizei, Kapital, Herrschaftsideologie. Er/sie tritt immer und überall für die Interessen der unterdrückten Masse ein, gleichzeitig arbeitet er/sie an theoretischen Modellen und den praktischen Beispielen für eine zukünftige Gesellschaft: Eine Gesellschaft ohne Herrschaft und Autorität, ohne Ausbeutung und Entfremdung aufgebaut auf neuen Prinzipien wie Solidarität statt Egoismus, gegenseitiger Hilfe statt Konkurrenz und freier Vereinbarung statt Befehlsprinzip.

Aus Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 10)
Zwar findet man, wenn man die Bücherwände einer entsprechend ausgestatteten Bibliothek entlanggeht, ohne allzu große Mühen alles Nötige, um die Ideen des Anarchismus zu studieren. Aber - und dies ist die zweite Schwierigkeit - in der politischen Auseinandersetzung heute kommen die differenzierten Diskussionen, die Konzepte und Beweisführungen der Anarchisten nicht mehr vor. Kaum ein politischer Begriff kann daher durch Unkenntnis und Falschinterpretation so leicht mißbraucht werden wie der Anarchismus. Viele Ideen sind verschüttet; teilweise wurden sie wieder entdeckt, um danach wieder vergessen zu werden, und es erscheint nicht ganz unwahrscheinlich, daß einige davon die Welt noch einmal so überraschen werden, als wenn sie wirklich neu wären. Der vorliegende Band ist daher nicht nur "wider das Vergessen" geschrieben: Wer es sich nicht zu einfach macht und den Begriff des Anarchismus in der vorgestellten Weise aus strategischer Absicht diffamiert, der sieht sich vor einem auf den ersten Blick schwer zu entwirrenden Knäuel von Utopien, Gesellschaftsentwürfen, Strategien und Aktionen. Eine Rekonstruktion dieser Ideen und der Geschichte des Anarchismus ist aber Voraussetzung für eine Diskussion der Frage, ob eine künftige Entwicklung der Gesellschaft von der Aufnahme anarchistischer Gedanken irgendeinen Nutzen ziehen kann.
Aber so ausdifferenziert, bisweilen verworren und sektiererisch sich die Strömungen des Anarchismus darbieten, so kann doch ein "größter gemeinsamer Nenner" formuliert werden:

  • Der Anarchismus wird von Anarchisten immer für die einzig legitime Verkörperung sowohl des Sozialismus als auch des Kommunismus gehalten: Die herrschaftsfreie Gesellschaft ist das eigentliche, gemeinsame Ziel.
  • Anarchismus will dabei jedoch mehr als Sozialismus und Kommunismus, nämlich nicht nur eine klassenlose oder genossenschaftliche, sondern auch eine von jedwedem unnötigen institutionellen Überbau befreite Gesellschaft.

Aus Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 91)
Anarchismus ist die Haltung der permanenten Erzeugung, Um- und Neuschaffung der (sozialen) Welt. Die Ethik als das wesentliche Gebiet des Anarchismus macht die Welt zum Charakter- und Willensproblem.

Aus "Anarchie - eine Einführung" (Faltblatt ohne AutorInnenangabe)
Anarchie bedeutet die völlige und absolute Verneinung jeder Form von Herrschaft und gleichzeitig die Schaffung und Erhaltung einer herrschaftsfreien gesellschaftlichen Ordnung. Anarchie ist die Idee einer gesellschaftlichen Entwicklung, ist zugleich die Vorstellung einer Utopie, vieler möglicher Wege dorthin und das Werkzeug, dafür zu kämpfen. Aus ihrer Ablehnung jeder Herrschaft ist die Anarchie grundsätzlich antistaatlich, antikapitalistisch, antinational und diskursüberwindend.

Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 9 f.)
Das erste Kapitel bietet einen Rahmen, in dem eine Reflexion über den Anarchismus gesehen werden kann, nicht in inhaltlichen Begriffen, sondern hinsichtlich der Frage, was das eigentlich ist - Anarchismus. Ich schlage vor, unter Anarchismus mindestens Dreierlei zu verstehen. Erstens ist Anarchismus eine zeitgenössische soziale Bewegung, die sich aus dichten Netzwerken vieler Einzelner, von Bezugsgruppen und Kollektiven zusammensetzt. Sie kommunizieren intensiv, teilweise weltweit und stimmen sich bei einer Vielzahl direkter Aktionen und andauernder Projekte miteinander ab. Die durch und durch dezentrale und netzwerkartige Struktur der anarchistischen Bewegung scheint manchmal verwirrend - all die Aktivitäten entfalten sich gewöhnlich ohne formelle Mitgliedschaften oder feste organisatorische Abgrenzungen.
Zweitens ist Anarchismus die Bezeichnung für eine komplexe politische Kultur, die diese Netzwerke inspiriert und mit Inhalt füllt - wobei der Begriff hier eine Gruppe gemeinsamer Orientierungen bezeichnet, die das politische Handeln und das Reden darüber sowie auch das tägliche Leben ausrichten. Kennzeichnend für diese Kultur sind:
- ein gemeinsames Repertoire politischer Aktionsformen auf der Grundlage der direkten Aktion, des Aufbaus von Alternativen "von unten", von Kontakten und Konfrontation auf lokaler Ebene;
- gemeinsame Organisationsformen: dezentralisiert, horizontal und konsensorientiert,
- eine gemeinsame Kultur in so unterschiedlichen Bereichen wie Kunst, Musik, Kleidung und Essgewohnheiten, häufig angelehnt an westliche Subkulturen;
- eine gemeinsame politische Sprache, der es auf Widerstand gegen den Kapitalismus, den Staat, das Patriarchat und allgemein gegen Hierarchien und Dominanz ankommt.
Die anarchistische politische Sprache transportiert selber eine dritte Bedeutung von Anarchismus - Anarchismus als Sammlung von Ideen. Anarchistische Ideen sind theoretisch ausgefeilt und befinden sich zugleich im Fluss unablässiger Weiterentwicklung. Der Inhalt zentraler anarchistischer Gedanken ändert sich von einer Generation zur nächsten und ist nur vor dem Hintergrund der Bewegungen und Kulturen zu verstehen, in denen und durch die sie ausgedrückt werden.

Aus Kastner, Jens: "Verrückte Destabilisierung", in: GWR 1/2011 (S. 16, Text über Queer und Anarchie)
Queere Programme formierten sich fortan explizit "Wider die Eindeutigkeit" und als "Politik der Destabilisierung".
Eine solche Politik lässt sich ohne weiteres auch ganz allgemein als libertär bezeichnen, wenn man unter "libertär" eine fundamental-kritische Haltung stabilen Formen gegenüber in Politik (Partei- und Staatsapparate aller Art), Produktion (Fabrik, Arbeitszeitregime) und sozialem Leben (Ehe, Kleinfamilie etx.) versteht.

Aus David Graeber (3. Auflage 2013), "Frei von Herrschaft" (S. 59)
Es gibt einen Ausweg man muss nur akzeptieren, dass anarchistische Organisationsformen keinerlei Staatsähnlichkeit aufweisen würden. Dass damit eine unendliche Vielfalt von Gemeinschaften, Vereinen, Netzwerken, Projekten in jeder denkbaren Größenordnung ins Spiel käme, die sich auf jede uns vorstellbare Art und Weise und womöglich auf viele unvorstellbare überlappten und überschnitten.


Auffällig an allen neueren Texten zur Anarchie ist , dass sie weniger bedeutend sind als die alten Schriften und ihre ProtagonistInnen. Viele sind zudem nur Übersetzungen, d.h. der deutschsprachige Raum wirkt fast frei von aktueller anarchistischer Theoriearbeit. Gibt es keine neuen Ideen? Oder keine Menschen, für die Anarchie mehr ist als die Phase zwischen Rebellion gegen Elternhaus, Schule und erzwungene Lohnarbeit und dem Wiedereintauchen in genau diese Welt?
Fraglos: Es gibt keinen Grund, Texte nur deshalb kritischer zu sehen, weil sie älter sind. Aber Herrschaftsanalyse unterliegt einer Erweiterung der Kenntnis wie andere Wissenschaftszweige auch. Was ein Jahrhundert alt ist, passt nicht mehr zu allen sozialen Prozessen und zum soziologischen Kenntnisstand der Jetzt-Zeit. Den damaligen, oft mutigen und weitsichtigen AutorInnen ist das nicht anzukreiden. Wohl aber denen, die sich heute damit zufrieden geben. Oder sogar mit noch weniger: Nämlich nur den klangvollen Namen, mit deren Nennung sich das verhasste System ein Weilchen provozieren lässt, bis mensch selbst in ihm versinkt.

Anarchie im Alltag der AnarchistInnen
Nochmal eine andere Sache ist die gelebte Anarchie, also einerseits die Praxis derer, die in unzähligen, oft kaum sichtbaren Alltagsexperimenten wie kleinen Betrieben, WGs oder Basisgruppen ein herrschaftsfreies Miteinander zu entwickeln und zu verwirklichen versuchen, andererseits Reden und Tun derer, die sich auch offiziell unter dem Label der Anarchie organisieren. Hier entwickeln sich Traditionen: Abläufe wiederholen sich, Strategien werden geschmiedet und formen so das Gesamtbild der Anarchie mit.
Umgekehrt formen die gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere die prägenden Diskurse der Zeit, das Denken der AnarchistInnen. Anarchistische Subkulturen stehen Pate für verschiedene Richtungen kampfbetonterer oder harmonischer Entwürfe vermeintlich herrschaftsfreier Welten. Der Siegeszug esoterischer Fluchtpunkte für die sich in der Moderne auflösenden Lebenskoordinaten fand auch in Teilen anarchistischer Zusammenhänge statt - und erst recht gilt das für den Inbegriff des Guten schlechthin, der wie eine religiöse Heilslehre als Rettung der Welt verkündet, für den gebetet und gebombt wird: Die Demokratie. Eine Herrschaft des Volkes und Herrschaftsfreiheit gelten vielen nicht als unvereinbar, sondern als zusammen denkbar oder sogar als Dasselbe.

Insofern produzieren Theorie und Praxis der AnarchistInnen bereits eine Menge an Verwirrung, was eigentlich Anarchie sei. Aber das ist harmlos gegenüber dem, was dem Begriff so alles beigegeben wird von denen, die lieber nicht als AnarchistInnen gelten wollen.

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