Im Namen des Volkers

VERSAMMLUNGEN ZU AKTIONEN MACHEN

Einheitslatschen oder kreativ-widerständige Vielfalt?


1. Einheitslatschen oder kreativ-widerständige Vielfalt?
2. Besetzungen und Blockaden als Versammlungen
3. Viele Aktionsideen und -beispiele
4. Reclaim the streets & Co.
5. Links und Materialien

Definition von Demonstration
... eng definierte Teilmenge der denkbaren Protestaktionen im öffentlichen Raum ... Demonstrationen sind standardisierter und ritualisierter Kollektivprotest
Aus dem Beitrag von Hans Peter Schmalzl: "Das Problem der Eskalation von Protestverläufen" in: Frank Stein (Hrsg.,2003): Grundlagen der Polizeipsychologie, Hogrefe in Göttingen (S. 83)

Was macht den Erfolg einer politischen Aktion aus? Öffentliche Wahrnehmung? Direkte Intervention, d.h. das Stocken im Alltag von Herrschaft, Profit, Ausgrenzung usw.? Kommunikation in horizontalen Räumen erzeugen? Oder alles zusammen? Es gab und gibt Beispiele für kreative, vielfältige, kommunikative und auch störungsvolle Aktionskonzepte - auch bei großen Protesten. Castor, Seattle, Genua werden gehypt, aber mindestens vergessen, oft sogar verhindert. Der Alltag politischen Protestes bildet - vor allem in Deutschland - die klassische Demonstration. Sie hält sich an die Regeln, die die aufstellen, überwachen und aufstellen, gegen die sich der Protest (auch) richtet: Staatliche Gewalt, die aufgeladen ist mit eigenen Herrschaftsinteressen, die den reibungslosen Profit garantiert, die Aussonderung von Menschen und ständige Zurichtung auf vorgegebene Ziele des Lebens betreibt.
Vorteile bietet die Demonstration als Kampfform wenig, jedenfalls wenn das Potential an horizontaler Kommunikation und der tatsächliche Störeffekt als Maßstab dienen. Eher ist Demonstration ein Inbegriff des Normalen: Was wäre ein Angriffskrieg ohne eine begleitende Demonstration? Würden Naziaufmärsche noch ernst genommen, wenn nicht der Gegenaufmarsch auf dem Fuße folgt? Ist der nächste Klopper beim Sozialabbau vorstellbar ohne die geordnete Demonstration dagegen?
  • Protokoll der autonomen Vollversammlung am 13.2.2008 in Berlin zu Demo-Formen

Kritik an Demonstrationen
Die folgenden Punkte sind eine sehr zusammenfassende kritische Würdigung. Sie treffen auf die reine, an formalen Vorgaben orientierte Demonstration zu. Wo Demos mit anderen Aktionsformen verbundens werden, am besten noch in einer kreativ-intelligenten Art, bei der sich verschiedene Aktionskonzepte gegenseitig fördern, können die Probleme verringert oder aufgehoben werden. Nur - leider ist das eher selten der Fall. Meist dominiert der Typus der immergleichen Latschdemo. Die aber erzeugt viele negative Wirkungen.
  • Berechenbarkeit: Eine Demonstration, deren Organisation und Verlauf sich am geltenden Versammlungsrecht orientiert, ist weitgehend berechenbar. Überraschungsmomente treten kaum auf und sind regelmäßig auch nicht gewünscht. Polizei und Demoorganisator*innen verfolgen in fast allen Fällen das gleiche Interesse, die teilnehmenden Menschen unter Kontrolle zu haben. Demonstrationen fördern weder Vielfalt noch Organisationsfähigkeit, fast immer fehlt es schon an Stadtplänen, Aktionsmaterialien und Kommunikationsstrukturen, die ein Verlassen der einheitlichen Masse ermöglichen könnten. Die totale Handlungsunfähigkeit von Demo-Massen ist spätestens dann erkennbar, wenn die Demo in eine unvorhergesehene Lage kommt, z.B. Polizeikessel oder polizeitaktisch erzeugte Sackgassen.
  • Mangelnde Kommunikation nach außen: Die Demo ist weitgehend auf sich selbst bezogen. Mit den Menschen, die außerhalb der Demo auf diese schauen (oder auch nicht) entsteht keine Kommunikation. Meist fehlt sogar eine sinnvolle Vermittlung, weil Parolen eher Stammtischpositionen („Haut ab“, „Nazis raus“ u.ä.) oder sogar platte Selbstdarstellung beinhalten. Vereins- und symbolfarbige Wink-Elemente haben wenig kommunikative Ausstrahlung. Die Demoränder sind oft geschlossen, gesteigert wird das durch Polizeispalier oder Selbstfesselung der Demonstration durch Seitentranspis u.ä. Der Hauptsinn politischer Intervention, die Entstehung von Kommunikation und inhaltliche Vermittlung, geht dann völlig unter.
  • Kanalisierung: Die Mobilisierung von Demonstrationen frisst erhebliche Ressourcen und fokussiert die öffentliche Wahrnehmung auf das Großereignis. Das ist auch das Ziel der Macher*innen. Die Großdemonstrationen der vergangenen Jahre in Deutschland waren allesamt immer mit dem Appell verbunden, dass der Besuch der zentralen Demos der entscheidende Punkt von Kämpfen gegen Sozialabbau, Kriege usw. sei. Das ist ein Grund (neben anderen), warum keine Widerständigkeit entstanden ist und die Normalität von Krieg, Hartz IV & Co. unabgefochten in der Gesellschaft durchgesetzt werden konnte. Demos solcher Art stärken nicht den Widerstand, sondern ersetzen diesen.
  • Funktionalisierung und Hierarchien: Das Versammlungsrecht bzw. die Auflagen der Polizei (oft genug in bestem Einvernehmen mit den Demoorganisator*innen!) fordern eine scharfe interne Hierarchie für Demos. Es gibt die anmeldende Person, die quasi Hausrecht auf der Demo hat. Zudem sind Ordner als interne Aufpasser*innen zu stellen. Diese Hilfstruppen sind den Demoanmelder*innen weisungsabhängig - und indirekt damit auch der Polizei. Denn Teil der Auflagen ist immer, dass Auflagen der Polizei zu folgen ist. Sonst riskieren die Demoanmelder*innen ein Strafverfahren. Oft geben sie deshalb den Druck nach innen weiter - die Binnenstruktur der Demo ist dabei ein stark disziplinierendes Element. Die Demo wird homogenisiert und leicht steuerbar, von internen Eliten ebenso wie von außen. Bei den meisten Demos geht es um eine einheitliche Masse, deren Funktion das Applaudieren bei den (oft langweiligen) Reden der Eliten ist, damit in den Medien die nötige Aufmerksamkeit für diese entsteht.

So brutal es klingt: Diese negativen Merkmale sind ein Grund, warum Demos so beliebt sind. Denn wie die Polizei und die führenden Politiker*innen wollen auch die Eliten sozialer Bewegung genau das: Berechenbare, hierarchische und von ihnen instrumentalisierbare Aktionsformen schaffen. Sie wollen (!) eine monotone Herde, die ihren Reden zuhört, das telegene Hintergrundbild für ihre Pressekonferenz bietet und die ihre Flugblätter verteilt, ihre Schilder hochhält und ihre Parolen skandiert. Das ist kein Versehen, sondern gewollt. Daher ist es auch nicht überraschend, dass sich Eliten politischer Bewegung ständig distanzieren, wenn irgendwo etwas Ungeplantes passiert - und dass sie schon in der Vorbereitungsphase alle ausgrenzen, die Vielfalt und Leben in die Bude bekommen wollen. Bündnistreffen für Hartz-IV-Demos, die Münchener Nato-Sicherheitskonferenz oder andere Anlässe kanalisierender Latscherei sind eher mit Kabinettssitzungen unter Merkel oder Vertragsverhandlungen in Wirtschafts-Chefetagen vergleichbar. Ein Feuerwerk an Ideensammeln und Organisierung von unten sind sie nicht. Wer nicht wichtige Organisationen vertritt oder mit Geld winkt, kann gleich zuhause bleiben - und taugt nur als williger Vollstrecker der informell abgeklärten, immer gleichen Marschordnung. Ob es um Frieden, Sozialabbau oder was auch immer geht: Es sind immer dieselben Muster, sogar oft dieselben Redner*innen in den gleichen Reihenfolgen - weil es so gewollt ist!
Polizei, Politik und Bewegungseliten verfolgen damit gleiche Interessen. Ihre vorbereitenden Gespräche („Kooperationsgespräche“ heißen die - und finden ständig statt trotz „Keine Zusammenarbeit mit VS und Polizei“) sind meist harmonisch oder eben in einer Atmosphäre, die Tarifverhandlungen gleicht: Elite trifft Eliten zum abgehobenen Fingerhakeln. Bei den etwas dynamischeren Studiengebührenprotesten 2006, also während bzw. nach den geordneten Demos ständig Leute machten, was sie wollen, kam es in zumindest in vielen hessischen Städten zu Treffen zwischen Polizei und Studi-Funktionär*innen. Ihr gemeinsames Ziel: Wieder alle unter Kontrolle bringen. Die beiden Seiten hatten zwar unterschiedliche politische Ziele, aber ein gemeinsames taktisches: Kontrolle!

Links zu Selbstdarstellungen langweiliger Latschdemos
  • Internationaler Block bei der NATO-Konferenz Februar 2009 in München (Indymedia)

Aus dem Aufruf "Out of Control" zur Demo am 15.12.2007 in Hamburg
Aus dem offensiven Charakter des schwarzen Blocks wurde zunehmen eine passive Veranstaltung und heute sind wir oftmals schon froh, wenn wir innerhalb des wandernden Polizeikessels, kleine Erfolge wie Seitentransparente oder Vermummung durchsetzen konnten. Doch die Transparente können nicht mehr gelesen werden, weil Bullen vor ihnen stehen und wir verstecken uns mehr dahinter, als wir sie als Ausgangspunkt für Bewegung benutzen.
Manche vermeintlich erfolgreiche Demo, weil eingeseilt und mit Transparenten wie von Gartenzäunen umgeben, hat durch ihre introvertierte Form wohl mehr an einen mobilen Schrebergarten voller wütender aber hilfloser Zwerge, als an radikalen Protest erinnert. Die Form ist ein wenig zum Selbstzweck geworden und das erhalten der Form scheint oft schon als erfolgreicher Widerstandsakt wahrgenommen zu werden, während zunehmend unbeantworteter bleibt welche politischen und praktischen Ziele wir mit Demonstrationen über diese hinaus erreichen wollen. ...
Wir bewegen uns häufig in der paradoxen Situation, dass die Praxis eines geschlossenen Blocks als Selbstschutz, für die von den Bullen angestrebte Kontrolle des umgebenden Raumes arbeitet. Je dichter wir stehen, je weniger Chaos auf unserer Seite umso kontrollierbarer das Ereignis für die Polizei. Die Polizei arbeitet beweglich von Außen während wir uns nach Innen zurückziehen und mit Geschlossenheit antworten.


Bankräuber-Buchautor Michael im Interview mit dem Sonntagsmorgenmagazin, 2.8.2015
Ich war auf Demos in Gießen, zum Leidwesen der zumeist linksalternativen Mitdemonstranten allerdings als Teil der kleinen Gruppe der Spaßguerillos, die sich nicht nur über die überall unverfroren filmenden Polizisten, sondern auch über die oft allzu ernsthaft verbissenen Kampfgenossen lustig machten.

Die Alternative oder Erweiterung: Bunte Aktionstage (eventuell mit Demo als Teilelement)
Ein Blick auf Massenaktionen, die als schlagkräftig galten, lohnt sich. Im deutschen Sprachraum sind bekannt: Castor-Widerstand, WTO-Blockade in Seattle, G8-Gipfel in Genua sowie einige Ausnahmen von Anti-Nazi-Aktionen mit vielfältigen Konzepten statt Einheits-Gegenaufmarsch. In all diesen Fällen hat das Demorecht keine oder nur eine helfende Rolle gespielt. Kern war ein Konzept der Vielfalt, allerdings in einem kommunikativen Rahmen, der die Unterschiedlichkeit so verknüpfte, dass viele Kooperationen möglich wurden.
  • Beispiel Castor: Hier gibt es seit Ende der 90er Jahre das sogenannte Streckenkonzept. Das ist eine offensive Einigung darauf, sehr unterschiedliche Aktionsformen zuzulassen und einen Rahmen für ein sich förderndes Nebeneinander zu schaffen. Entlang der Schienen- und Straßenstrecke können unterschiedliche Gruppe sehr verschiedene Aktionen verwirklichen. Ob sie dabei auf das Demorecht zurückgreifen oder nicht, ist ihre Sache. Um einen Austausch zu ermöglichen, wird immer viel Kraft in die Informationsflüsse und Treffpunkte investiert. Das hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Aktionen sehr reibungslos nebeneinander und z.T. miteinander stattfinden konnten - wenn auch hier klar noch Verbesserungen möglich sind, z.B. bei der immer noch sehr hierarchisch organisierten Pressearbeit.
    Das Demorecht wird beim Castor-Widerstand helfend eingesetzt, wo es passend ist. Das betrifft zum Beispiel die einrahmenden größeren Umzüge (Auftaktdemo u.ä.), einige Demoanmeldungen mit Störwirkung (Blockadeeffekt) und die Absicherung von größeren Treffpunkten über das Demonstrationsrecht. Das ist ohnehin ein wichtiger Aspekt: Latschdemos sind nicht im Versammlungsrecht festgeschrieben, sondern freiwillig immer wiederholte Tortur der Langeweile. Gratisaktionen, Theater, Voküs mit politischer Aussagekraft, Open-Air-Kino und vieles mehr sind Versammlungen im Sinne des Demorechts. Solche Teile einer vielfältigen Aktionsserie können also über Demorecht abgesichert werden.
  • Feldbefreiung Pfingsten 2006 in Gießen: Eine Gruppe von Feldbefreier*innen hatte die Zerstörung des Feldes angekündigt. Andere Gruppen wollten lieber eine Dauer-Mahnwache und Infostände in der Nähe des Genversuchsfeldes aufbauen. Die zweite Gruppe versuchte, ihre Hauptfläche über Demorecht abzusichern. Sie hätte darüber hinaus auch spontane Theateraktionen, Spaziergänge am Feld usw. veranstaltet. So kann das Demorecht helfend eingesetzt werden, wenn es passt. Im konkreten Fall hat die Gießener Polizei, die seit Jahren ein Spezialfall in Sachen Rechtsbrüche ist, sich um das Versammlungsrecht aber nicht geschert und die Mahnwache verboten und geräumt. Das aber ist kein Grund, es nicht mit solchen Überlegungen immer taktisch zu versuchen, das Demorecht so einzusetzen, wie es Handlungsmöglichkeiten absichert oder erweitert.

"Out of Control" zielt in die Weite des Raumes und ist subversive Zerstreung als wirkungsvolles Mittel gegen einschließende Begleitung der Polizei. Es versteht sich als ein offenes und niedrigschwelliges Konzept des zivilen Ungehorsams. Alle sollen nach ihren Vorstellungen daran teilnehmen können. Es ist vielseitig bietet Raum für Kunst, Kultur, politische Intervention oder autonome Praxis. Es setzt auf unsere Beweglichkeit und Spontanität, lebt von Gewusel und unwiderstehlichem Chaos. Es ist keine feste Gruppe und kein fertiges Konzept, sondern eine Art offenes Label. Eine Einladung an alle, die sich der polizeilichen Sicherheitsarchitektur entziehen wollen. (Quelle wie oben)

Straßenprotestformen ohne Demorecht
Auf Straßen und öffentlichen Plätzen unterwegs zu sein, geht natürlich auch ohne Versammlungsrecht. Dann riskiert mensch zwar eine Ordnungswidrigkeitsstrafe wegen Teilnahme an einer illegalen Versammlung, aber so einfach ist das gar nicht, nachzuweisen, dass es eine solche ist. Wenn die Versammlung nämlich keine Leiter*innen hat bzw. keine zu finden sind, ist nämlich auf jeden Fall schon mal niemand strafrechtlich belangbar. Und ob für Bussgelder Verfahren eingeleitet werden, wenn es viele sind und alle vielfältigen Protest ankündigen, darf getrost bezweifelt werden.

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