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GESCHICHTE SOZIALER ORGANISIERUNG

Soziale Organisation als Grundform menschlichen Lebens


1. Soziale Organisation als Grundform menschlichen Lebens
2. Wer macht Geschichte? Was prägt die Gesellschaft?
3. Emanzipation: Das Herrschaftsförmige aus den Beziehungen verdrängen

Der Mensch kann, ab einem bestimmten Alter, als Individuumallein überleben. Er könnte sich aber dann bereits nicht mehr fortpflanzen, d.h. die Menschheit insgesamt würde bei völliger Isolierung der Individuen aussterben. Er kann sich zudem - als BetroffeneR oder NutznießerIn - der durch die Gesamtzahl aller Menschen geleisteten Arbeit nicht entziehen, denn sie ist überall auf dem Planeten spürbar und wirksam. Es spricht aber auch gar nicht viel dafür, dass der Mensch für das einsame, abgekoppelte Dasein bestimmt ist. Im Gegenteil: Menschliches Leben ist von Natur aus erkennbar auf Kooperation und Kommunikation angelegt. Das gilt selbst dann, wenn die viel weitergehende, für den Menschen typische, sehr komplexe soziale Organisierung außer Acht gelassen wird. Denn schon von der biologischen Ausstattung her spricht alles für ein Lebewesen, dass vor allem durch Kooperation überlebt. Sichtbar wird dass an der langen Kindheits- und Jugendphase, die ein Mensch nur in der Obhut und Begleitung Älterer überleben kann. Zudem ist der Mensch nur sehr ungenügend mit Möglichkeiten ausgestattet, sich vor Fressfeinden zu schützen. Er hat gar keine körpereigenen Waffen, kann nur begrenzt schnell laufen, kaum gut klettern und könnte sich vielleicht durch einen Sprung ins Wasser vor manchen Raubtieren retten, falls solches gerade in der Nähe ist und nicht von anderen Fressfeinden besiedelt wird. Nur Kooperation hilft, denn eine Ansammlung von Menschen stellt schnell eine überlegene Kampfeinheit gegenüber jedem Angreifer dar.
Menschen sind in vielerlei Hinsicht "Allrounder". Alle ihre Sinne sind einigermaßen, aber keiner besonders gut ausgeprägt. Ihre Nahrungsquellen können breit gestreut sein - Tiere und Pflanzen, frische und haltbare Stoffe können dazu gehören. Auch das legt Kooperation nahe, da die Beschaffung der unterschiedlichen Nahrungsmittel immer sehr verschiedener Aktivitäten bedurfte. Zwar sind die konkreten Rollenaufteilungen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte dann entstanden (z.B. zwischen Männern und Frauen oder Hierarchien in Stämmen, Sippen und anderen sozialen Bindungen), nicht aus der Natur ableitbar, aber dass überhaupt eine Arbeitsteilung entstand, war schon von der Biologie her naheliegend. Der Mensch lebt nicht als Herde oder Schwarm, wo alle Individuen zur gleichen Zeit auch weitgehend das gleiche tun - also alle fressen, weiterwandern oder zur Tränke ziehen.
Viel wichtiger aber als die biologischen Grundlagen wirkte sich die kulturelle Entwicklung des Menschen aus. Die zielt noch viel stärker auf Kooperation und damit auch Arbeitsteilung hin. Viele wirkungsmächtige "Werkzeuge", die Menschen sich aneignen, wären für EinsiedlerInnen ebenso überflüssig wie bei gleichgeschaltetem Verhalten. Dazu gehört die komplexe Sprache. Sie bot die Chance, zunehmend vielfältigere soziale Prozesse aufzubauen, weil nun auch Informationen zwischen Teilen, die sich nicht mehr unmittelbar gegenseitig erlebten, ausgetauscht werden konnten. Absprachen waren möglich, die ein abgestimmtes Verhalten über große Entfernungen und auch zeitlich voneinander verschobenen zum Ziel hatten. Das eröffnete grundsätzlich neue Handlungsmöglichkeiten, die alle fehlen würden, wenn Menschen nicht miteinander kooperierten.
Zwischen isolierten Individuen fiele der Prozess gegenseitigen Lernens weg und damit eine der typischen Fähigkeiten von Menschen, sich kompakt und zu ausgewählten Punkten das in Jahrhunderten erarbeitete Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben. Die Weitergabe von Informationen über Sprache, Vor- und Nachmachen stellt eine bedeutende neue Qualität im Fluss der Evolution dar, spezifisch für höhere Lebensformen und in seinen Ausformungen typisch für den Menschen. Der Selbstentfaltung des Individuums würden also viele Möglichkeiten genommen, wenn sich die Individuen voneinander losgelöst durchs Leben kämpfen würden. Der Mensch ist ein soziales Wesen - dieser Satz kann also auch aus emanzipatorischer Sicht bejaht werden (mehr hier).
Doch damit ist noch nichts darüber ausgesagt, wie das Zusammenleben der Menschen stattfindet - und wie es sich entwickelt hat. Denn ob die heutigen, sich ja ständig verändernden Formen sozialer Beziehungen auch denen in der Geschichte der Menschen entsprachen, ist so klar nicht. Die Geschichtsschreibung hierzu reicht unmittelbar, d.h. in Form von schriftlichen oder sonstigen Überlieferungen bis ca. 3000 Jahre zurück. Archäologische Ausgrabungen früherer Siedlungen lassen Rückschlüsse auf Formen des Zusammenlebens zu, etwa über die Bestattungskulte von Toten, von Feindseligkeiten und Kriegen, aber wenig über die konkreten Umgangsweisen im Alltag. Wie sah das Zusammenleben aus, bevor es Familien gab? Schließlich ist mehr als zweifelhaft, dass Familien eine lange Tradition in der Menschheitsgeschichte haben, fehlte doch bis zu dem Zeitpunkt, an dem überhaupt klar wurde, dass Männer Anteil an der Fortpflanzung hatten, ein abstrakter Grund für die Familie als Fortpflanzungsgemeinschaft. Gab es trotzdem, auf erotischer Anziehung fußende, feste Zweierkisten? Oder dominierten eher Sippen, Stämme oder ähnliche mehr oder weniger feste Gemeinschaften? Was geschah mit den Menschen, die es dort nicht aushielten? Oder die als untragbar galten? Wie scharf waren die Grenzen zwischen den Gemeinschaften gezogen - falls es überhaupt so starr abgegrenzte gab? Im Jahr 2010 zeigten mehrere Forschungsarbeiten, dass etliche Teile des heutigen menschlichen Genoms vom Neandertaler stammen dürften, d.h. die sich auseinanderentwickelnden Teile der Menschheit haben sich offensichtlich immer wieder schnell vermischt, wenn sie in Kontakt kamen - ob freiwillig oder gezwungenermaßen, dürfte schwer feststellbar sein.
Es ist angesichts der fortschreitenden Kulturtechniken des Menschen wie Sprache,die Entwicklung von Hilfsmitteln und Werkzeugen, die Haltbarmachung von Lebensmitteln usw. denkbar oder sogar wahrscheinlich, dass sich die Formen des Zusammenlebens im Laufe der Zeit veränderten. Ebenso dürften sie auch innerhalb eines Zeitabschnittes an verschiedenen Orten recht unterschiedlich gewesen sein. Eine weltweite Diskurssteuerung, wie sie heute über Medien, Bildung und Gesetze recht einfach möglich ist und Normen als allgemeingültig zu setzen weiß, gab es früher nicht. Doch ob daraus eine buntere Vielfalt von Organisierungsformen entstand, ist unbekannt.
Je länger mensch in die eigene Geschichte zurückschaut, desto enger sind die damals Lebenden mit den natürlichen Verwobenheiten verbunden, desto weniger abstrahierten sie ihr Leben und ihre Umweltbedingungen. Die Geschichte der Menschen ist ein prägnantes Beispiel für die Entwicklung des Lebendigen unter Schaffung immer neuer Möglichkeiten, die wiederum die Bedingung der Entwicklung weiterer Möglichkeiten bildet.

Arbeitsteilung und Hierarchie
Arbeitsteilung dürfte, wie gezeigt, von Beginn an die Entwicklung der Menschheit begleitet haben. Mit zunehmender Fähigkeit zur sprachlichen und später schriftlichen, d.h. über weite Strecken transportierbaren Kommunikation nahm die Arbeitsteilung an Komplexität zu. Das ist aber nicht automatisch mit der Entstehung von Hierarchien verbunden. Hierarchische Arbeitsteilung ist eine bestimmte, aber nicht notwendige Form der Aufteilung von Tätigkeiten. Diese kann auch einvernehmlich, z.B. nach Neigung, augenblicklicher Lust, nach Fähigkeiten oder gemeinsam erörterten Notwendigkeiten erfolgen. Möglich ist eine zufällige oder rotierende Arbeitsteilung. Ob die heute dominierende hierarchische Arbeitsteilung von Beginn an die Menschheit prägte, weiß niemand. Es gibt Hinweise, dass sich zumindest die Hierarchien verschoben. So haben in alten Höhlenmalereien und Skulpturen Darstellungen weiblicher Körper einen wesentlich höheren Anteil bei solchen Figuren, die wichtige gesellschaftliche Positionen einnahmen - bis hin zu den frühen Göttinnen. Im Judentum, Christentum und Islam ist davon nichts mehr zu spüren bzw. die Gleichberechtigung muss in der Neuzeit mühsam zurückerkämpft werden mit bislang nur mäßigem Erfolg.
Arbeitsteilung ist keine ausreichende Erklärung für die Entstehung und Existenz von Hierarchien. Allerdings kann sie diese befördern, weil eine hierarchisch gegliederte Arbeitsteilung sich selbst verstärkt. Durch Arbeit werden Ressourcen geschaffen, die bei ungleicher Verteilung bestehende Hierarchien zementieren oder sogar steigern. Dazu gehören Informationen, Produktionsmittel und, seit es die Geldwirtschaft gibt, das universelle Tauschmittel Geld. In den letzten Jahrtausenden kam die Formalisierung der Hierarchien hinzu, die sie noch viel weitergehender selbst bestärkte: Wenn herrschende Kreise die Regeln einer Gesellschaft festlegen, wird sich das in ihrem eigenen Machtanspruch widerspiegeln. So schützen Gesetze heute vor allem den Machtanspruch des Staates, die Privilegien von Männern und Inländern, das Eigentum und gehortetes Wissen, die Verteilung von Waffen und Ressourcen.
Existieren also erst einmal Hierarchien, so zeigen diese immer die Tendenz zu ihrer Selbstverstärkung, weil die bereits Privilegierten auch für zukünftige Verteilungsprozesse eine ungleiche Zuordnung von Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten erreichen können. Zudem werden sie dazu neigen, ihre privilegierte Position zu verteidigen. Diese ist unter anderem durch das Aufbegehren der Nicht-Privilegierten, aber auch durch die Konkurrenz zwischen den Privilegierten gefährdet. Ersteres führt zum Bedürfnis nach Kontrolle, d.h. die in der Hierarchie oben Stehenden bauen Überwachungssysteme auf, um etwaige Angriffe auf ihre Stellung frühzeitig erkennen und abwehren zu können. Zweiteres, also der interne Konkurrenzkampf führt zu einer Aufrüstung mit Durchsetzungsmitteln, um die eigenen Privilegien gegen den Zugriff anderer Privilegierter verteidigen oder ausbauen zu können.
Notwendig wäre das alles nicht. Es gibt keinen schlüssigen Grund dafür, dass die Menschheit Hierarchien bräuchte. Sie sind entstanden (wodurch, ist nicht abschließend und erst recht nicht in allen Details geklärt) und schufen dann, als sie bestanden, eine Tendenz zur Selbstverfestigung oder sogar Verstärkung.
Etliche auch heute noch oder neu bestehende Formen horizontaler, d.h. hierarchiefreier Kooperation zeigen aber, dass es der Hierarchien nicht bedarf. Es spricht sogar einiges dafür, dass Hierarchien eher dem Leben und der Selbstentfaltung der Menschen konträr und feindlich gegenüberstehen, d.h. dass die Tatsache, dass die Menschheit fast überall hierarchisch operiert, ein wichtiger Hemmschuh für Fortschritt und Weiterentwicklung ist. Dieseszu klären, ist Aufgabe der folgenden Abschnitte.

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