Stiftung Freiräume

TEXTE ZUR SCHULKRITIK

Robert Walser: Die Schule


1. Wissen und Konkurrenz
2. Robert Walser: Die Schule
3. Die Schule als heilige Kuh
4. Das "Opium" Schule legitimiert gesellschaftliche Hierarchien

"Über den Nutzen und die Notwendigkeit der Schule" so lautet das Thema an der Wandtafel. Ich behaupte, die Schule ist nützlich. Sie behält mich sechs bis acht Stunden im Tag zwischen ihren eisernen oder hölzernen Klauen (Schulbänke) und behütet meinen Geist, in Liederlichkeiten auszuarten. Ich muß lernen, das ist vortrefflich. Sie bereitet mich auf das bevorstehende öffentliche Leben vor: das ist noch besser. Sie ist da und ich liebe und verehre Tatsachen. Ich gehe gern zur Schule und verlasse sie gern. Das ist die schönste Abwechslung, die ein unnützer Schlingel erlangen kann.

In der Schule wird ein Maßstab an jedermanns Kenntnisse gelegt. Jetzt gelten keine Unterschiede mehr. Der ärmste Bengel hat das Recht, am reichsten an Kenntnissen und Begabung zu sein. Niemand, nicht einmal der Lehrer, wehrt ihm, sich auszuzeichnen. Alles hat Respekt vor ihm, wenn er glänzt; alles schämt sich seiner, wenn er unwissend ist. Ich finde, das ist eine hübsche Einrichtung, so den Ehrgeiz zu reizen und einem zu gestatten, um die Bewunderung der Kameraden zu buhlen. Ich bin fürchterlich ehrgeizig. Nichts beglückt so sehr meine Seele, als das Gefühl, den Lehrer mit einer klugen Antwort überrascht zu haben.

Ich weiß, daß ich einer der besten Schüler bin, aber ich zittere beständig vor dem Gedanken, daß ein noch Geschickterer mich überflügeln könnte. Dieser Gedanke ist heiß und aufregend wie die Hölle. Das ist der schöne Nutzen der Schule, sie strengt an, sie regt auf, sie setzt in Schwung, sie hätschelt die Einbildungskraft, sie ist der Vorsaal, gleichsam das Wartezimmer zum Leben.

Nichts, das besteht, ist nutzlos. Die Schule am allerwenigsten ist es. Nur faule und deswegen oft bestrafte Schüler können zu dieser Idee kommen. Mich wundert überhaupt, daß man uns eine solche Frage vorlegt. Schüler können eigentlich nicht über den Nutzen und die Notwendigkeit der Schule, in der sie selbst noch stecken, reden. Über so etwas sollten ältere Leute schreiben. Etwa der Lehrer selbst, oder mein Vater, den ich für einen weisen Mann halte. Die Gegenwart, die einen singend und lärmend umgibt, ist in keine genügende Form schriftlich zu fassen. Man kann allerlei plappern, ja; ob aber das Mischmasch (ich verzeihe mir die Ungezogenheit, womit ich meine Arbeit tituliere), das man schreibt, etwas spricht und bedeutet, ist eine Frage.

Die Schule ist mir lieb. Ich gebe mir Mühe, das gutwillig zu lieben, das mir einmal aufgedrungen ist, und von dessen Notwendigkeit man mich von allen Seiten stumm überzeugt hat. Die Schule ist das unentbehrliche Halsband der Jugend, und ich gestehe, der Schmuck ist ein kostbarer. Wie würde man den Eltern, den Handwerkern, den Passanten auf der Straße, den Besitzern von Kaufläden zur Last fallen, wenn man nicht in die Schule gehen müßte! Womit wollte man sich die Zeit vertreiben, wenn nicht mit Aufgaben! Streiche zu verüben

Ja, wirklich, die Schule ist eine süße Einrichtung. Ich beklage es keineswegs, ihr anzugehören, sondern ich beglückwünsche mich von Herzen. Alle klugen und wahrheitsliebenden Schüler müssen so oder ganz ähnlich sprechen. Vom Nutzen einer Sache sprechen zu wollen, die notwendig ist, ist überflüssig, da alles Notwendige unbedingt nützlich ist.

Robert Walser

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